Über die Unbeständigkeit unseres Tuns, Purpose oder Warum-und-Wofür
- rbr0303
- 11. Jan.
- 3 Min. Lesezeit

„Wer sich darauf verlegt, die menschlichen Handlungen zu Buch zu bringen, findet sich dabei in kleinen Stücken in solcher Verlegenheit, sie miteinander in Verbindung und auf einen Nenner zu bringen: denn sie widersprechen sich insgemein auf so absonderliche Weise, dass sie uns unmöglich aus derselben Werkstatt kommen zu können scheinen.“
Wie unschwer an der Qualität des Satzes zu erkennen ist, stammt die Formulierung des Gedankens nicht von mir sondern von Montaigne (in der Übersetzung von Herbert Lüthy). Unser Handeln und Meinen ist demnach unbeständig. Wenn ich viele unserer Äußerungen und unser Handeln betrachte, fällt es tatsächlich nicht leicht, Menschen in eine Schublade zu stecken, um deren Verhalten unfallfrei vorauszusagen.
Technologiekonzerne sowie Auslands- und Inlandsgeheimdienste wissen besser, was ich denke und tun werde, als ich selbst. Zeugt es nicht von mangelndem Selbstvertrauen der Tech-Riesen, in den sozialen Medien immer noch eine Suchfunktion für Content anzubieten? Vielleicht bin ich kein repräsentativer User, vielleicht ist die künstliche Intelligenz im Hintergrund einfach noch nicht ausgereift genug oder ich nutze die Medien zu selten, aber häufig sind vorgeschlagenen Videos, Artikel und Fotos gerade nicht das, was ich sehen oder lesen will, manchmal sogar genau das Gegenteil. Nicht jeder grauhaarige, weiße Mann, nicht jeder abgehängter, junge Mann will Wahlwerbung von der AFD sehen. Was läuft da schief? Manchmal mache ich mir den Spaß und ich schaue mir auf Webseiten, die ich besuche - das sind meist Online Nachrichtenmagazine - die Werbebanner an. Wie kommt die Damenunterwäschewerbung dahin, was interessieren mich Luxusuhren oder Treppenlifte? Die Schrotflinte, mit der auf mich geschossen wird, streut doch noch ziemlich und trifft so gut wie nie ins Herz.
Auf der anderen Seite wissen wir nicht, wie viele Verbrechen durch Datenanalyse verhindert werden konnten und wir wollen es auch nicht wissen, was mit unseren Daten geschieht. Um uns Abonnements zu sparen oder analoge Triebe zu befriedigen, verbreiten wir Trugbilder von uns und breiten manchmal sogar unser Herz im virtuellen Kosmos aus, falls uns die digitale Reife fehlt oder wir einen schwachen Moment erwischen. Wir konservieren und stellen Vergangenheit aus. Das Leben, das was zählt, was Wert hat, will analog gestaltet werden. Aber darum geht es uns in letzter Konsequenz. Wir denken und handeln immer noch erratisch genug, dass der lange digitale Arm nicht allzu weit in die Zukunft reicht. Wenn uns der kalte, nasse Wind längere Zeit ins Gesicht klatscht, wachen wir aus jedem Traum auf.
Wenn wir nicht wissen, wo wir hinwollen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir irgendwann irgendwo stehen, wo wir nicht sein wollen. Seien wir denen dankbar, die sich auf dem Weg dahin ausbeuten, vielleicht merken, dass sie sich auf dem Weg dorthin geändert haben, gerne einen anderen Weg einschlagen wollen, aus dem Räderwerk aber nicht schnell genug rauskommen und dabei Waren erzeugen und Dienste zur Verfügung stellen, die uns von großem Nutzen sind. Ohne das Smartphone wäre ich in einem fremden Land, in einer fremden Stadt, dessen Sprache ich nicht verstehe und das wie ein Labyrinth auf mich wirkt, inzwischen völlig hilflos. Ich trage einen hilfreichen Teil des Wissens der Welt in meiner Tasche und weiß auf Reisen, wie das Wetter die nächsten Tage wird.
Wie ich von Besuchern Chinas und aus den Medien zu meinen glaube, schafft es der Staat dort mit Hilfe zahlloser Kameras, Apps, anderen elektronischen Geräten und ausgeklügelten KI-Systemen, die eingelesenen Daten so zu analysieren, dass man sich im öffentlichen Raum sehr sicher fühlt, sogar vor abweichenden Meinungen, die allerlei Gefahren heraufbeschwören könnten. Man weiß eben um die Sprunghaftigkeit menschlichen Handeln und den daraus potenziell resultierenden Katastrophen für die Allgemeinheit, auch wenn man konstatieren muss, dass es sich hierbei um einen vielleicht effizienten, aber eher armseligen Anwendungsfall künstlicher Intelligenz handelt.
Die Beweggründe unseres Handelns und Denkens bleiben uns meist verborgen. Wir können erfahren, dass unterschiedliche Zielsysteme miteinander konkurrieren. Mit der kürzesten Halbwertszeit des Worum-und-Wofür wartet unsere Vergnügungssucht auf. Die künstlich intelligenten Social Media Plattformen halten uns bekanntermaßen mit den Dopamintricks einer Slot Machine bei Laune, mit dem schnellen orgiastischen Genuss, der sich in seiner Erfüllung erschöpft und die Creator von Content mit der Aussicht auf schnelles Geld, nicht selten mit erschütternden Folgen. Wer den Sinn des Lebens gefunden hat, mag das Warum-und-Wofür mit der höchsten Halbwertszeit gefunden haben, mit etwas Glück übersteigt die Zeitspanne die Lebenszeit.
Vielleicht schützen uns die Unzulänglichkeiten zu erkennen, welche Triebfedern - seien es eine der sieben Todsünden oder ein der dreihundertachtundneunzig Tugenden - unsere Bewegungen auslösen davor, nicht nur in Kunst, Literatur und Film eine Superintelligenz zu erschaffen, die die Menschheit wegen ihrer immanenten Inkohärenz zwangsläufig auslöscht und danach mit dem entwickelten Bewusstsein feststellt, dass seine Existenz keinen Sinn hat und sich selbst eliminiert oder auch nur, uns allzu ernst zu nehmen. Darüber ab und an nachzudenken, könnte manche erschrecken, andere entsetzen, würde den meisten aber wohl kaum schaden. Vielleicht bin ich in diesem Punkt weniger pessimistisch als Montaigne.
P.S.: Für alle, die mit dem Werk von Otto Dix nicht vertraut sind, das Gemälde stellt die sieben Todsünden dar.


