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Im Anfang war das Wort

  • rbr0303
  • vor 5 Tagen
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Im Anfang war das Wort - 16.12.2025


„Im Anfang war das Wort,

und das Wort war bei Gott,

und Gott war das Wort.“


So beginnt das Johannes Evangelium. Vermutlich habe ich den Satz das erste Mal in einem Gottesdienst gehört. Er begleitet mich seither im Leben.


Wie entsteht aus einem Apfelkern ein Apfelbaum? War im Anfang das Wort, der DNA-Strang im Apfelkern, Eiweißmoleküle, so angeordnet, dass man sie als Information interpretieren kann, als Wort, das unter günstigen Umgebungsbedingungen Apfelbaumzellen bildet, aus denen der Apfelbaum heranwächst? Lessing wirft in Nathan der Weise die Frage auf, ob nicht die Tat im Anfang steht.


Das Wort ist nur dann ein Wort, wenn es jemand versteht. Sind Worte Beschreibungen dessen, was ist, was wir uns ausgedacht haben, um unseren Platz im Leben zu bestimmen? Das Wort ist nur in uns, weil es auch andere Menschen verwenden.


Naturwissenschaftler erfinden neue Worte für Phänomene, für die wir sonst keine Erklärung finden. Erfinder erfinden neue Worte für Dinge, die es zuvor nicht gab, scheinbar und oder tatsächlich Nutzen stiften, skaliert durch Marketingexperten, Wortakrobaten, die dem neuen Ding, der neuen Leistung in einem größeren Personenkreis Bekanntheit, einen Markt verschaffen.


Naturwissenschaftler glauben an die Allgemeingültigkeit ihrer Entdeckungen - ich auch. Sie glauben, eine Sprache, meist eine mathematische, für die Funktionsweise der uns umgebenden Wirklichkeit gefunden zu haben; zumindest solange keine beobachtbaren Phänomene das Modell widerlegen. Die Falsifizierbarkeit macht mir die Naturwissenschaften sympathisch. Und dennoch ist die universelle Gültigkeit der naturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse ein zentrales Paradigma.


Philosophen, große Schriftsteller und Dichter finden Worte, Sprache, komponieren Wörter zu größeren, sinngebenden Gebilden, für Gedanken und Gefühle, die in uns und zwischen uns schlummern, ohne dass wir sie alleine jemals auszudrücken vermöchten; mehr und mehr versucht die psychologische und soziale Forschung auf wissenschaftlichen Weg unsere menschlichen und zwischenmenschlichen Untiefen auszuloten.


Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, das Prophetische, schwingt fast immer mit. Was ist der Unterschied zu den Propheten aus der Bibel und zu den Propheten anderer Religionen? Ich stelle mir die Frage offen: Was ist der Unterschied zu den Prophezeiungen eines Johannes des Täufers, wie sie in der Bibel zu lesen sind?


Anton Zeilinger formuliert, dass Materie in Form von Up-Quarks, Down-Quarks und Elektronen austauschbar ist. Die Information, wie die Materie angeordnet ist, konstituiert das Universum. Wir Menschen bestehen nach biologischen Erkenntnissen aus Atomen und Molekülen. Wir können uns als Chemiefabrik bezeichnen, die sich bis zu unserem Tod - mit Ausnahme einiger Nervenzellen - aus Atomen und Molekülen, die wir mit der Nahrung aufnehmen, ständig erneuert. Konstituierend bei diesem Prozess bleibt die DNA als Grundinformation und die Signale, die unser Körper im Laufe des Lebens aufnimmt, verarbeitet und als Information speichert und verwendet. (Vgl. Anton Zeilinger, Einsteins Spuk und Paul Nurse, Was ist Leben?; vgl. hierzu auch mein Essay zu Was ist Leben?).


Wir glauben, dass wir mit unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen der Schöpfung auf der Spur sind. Dass jede Antwort tausend neue Fragen aufwirft und die Antworten darauf immer komplizierter werden und für die Allgemeinheit und mich schwieriger zu verstehen sind, entbehrt nicht einer hübschen Ironie. Das Glauben wird anstrengend.


In einer alltäglichen Unterhaltung werden uns die Worte, die wir mit unseren Stimmorganen als Schall aussenden, meist erst, während wir sie hören, bewusst. Legten wir uns die Sätze, die wir formulieren, jedes Mal zuvor im Bewusstsein zurecht, wie das der schnell dahin geworfene Spruch „Erst denken, dann reden“ nahelegt, wäre kaum eine alltägliche Unterhaltung oder Diskussion auszuhalten.


Auch wenn wir uns über schwierige Themen unterhalten, passiert es selten, dass wir vor der Antwort innehalten, weil wir im Vorfeld viel darüber nachgedacht haben. Die Glaubenssätze stehen im Unterbewusstsein und melden sich im passenden Augenblick, wie von Geisterhand zur Verfügung gestellt. Am interessantesten sind Unterhaltungen, bei denen wir ins Stocken geraten, nachdenken und im Verlauf des Gesprächs zu neuen Erkenntnissen gelangen. Wir spüren auch dann, dass da zunächst das Wort ist und dann erst der Ton folgt.


Welche Erfahrungen mache ich beim Schreiben dieses Essays? Es ist grundsätzlich ähnlich wie beim Sprechen. Im Anfang ist das Wort. Es kommt halt nicht von Gott, denn ich bin kein Prophet. Der Code ist fehlerbehaftet. Ich schreibe keine Offenbarungen, aber ich schreibe.


Dem Verhalten des Einzelnen und größeren sozialen Einheiten wie Unternehmen, Vereine oder sozialen Blasen sind sich selbst gegenüber und in darüber hinaus gehenden Gemeinschaften weitgehend durch geschriebene Gesetze, Verordnungen, zwar nicht schriftlich formulierten, aber verinnerlichten Normen, Moralvorstellungen und Kodizes Grenzen gesetzt. Änderungen sind nur über Änderungen der Worte möglich. Wie uns Geschichte und Gegenwart lehren, geschieht das leider heute immer noch häufig über gewaltsame Akte. Man ist geneigt zu formulieren, dass in diesem Fall im Anfang nicht das Wort, sondern die Tat steht. Streng genommen, ist die Frage, ob zuerst das Wort oder die Tat war, wieder eine Frage der Konstruktion von Realität, wie beim eskalierenden Streit mit einem Mitmenschen.


So ist das auch beim Denken, Planen, Sprechen und Schreiben. Die Umwelt kommt als die vom System selbst konstruierte Information daher, entscheidet aber über die Überlebensfähigkeit des Systems in der Umwelt. Im Anfang war das Wort. Ich konstruiere zwar die Umwelt mit Worten, benutze aber Worte, die nicht von mir stammen, als Materie. Das Wort im Anfang muss uns dabei verborgen bleiben, sonst können wir nicht sein. Wenn wir wüssten, was uns bewegt, würden wir uns noch selbst bewegen?


Der Plan, ein Haus zu bauen, indem man, die Familie, viele Familien wohnen können, ist schön und gut. Was nützt der Plan? Man muss ihn in die Tat umsetzen, damit die Lieben vor Wind und Wetter geschützt sind. Was nützt die Liebe in Gedanken? Ohne Tat, kein Werden und Sein.


Doch das sind nur dahin geschriebene Worte; ich bin ein Mensch und darf mich irren. Weihnachten steht vor der Tür und kommt einmal mehr überraschend. Auf Worte, die verletzen, wollen wir einmal mehr verzichten.


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