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Wolfszeit von Harald Jähner

  • rbr0303
  • 8. Jan.
  • 2 Min. Lesezeit

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Ich hatte gehofft beim Lesen des Buches Wolfszeit etwas mehr über die Gemütsverfassung meiner Eltern- und Großeltern zu erfahren. Das dörfliche Milieu und die Kleinstadt bleiben ein blinder Fleck. Der Autor beschreibt die Nachkriegsgesellschaft aus städtischer Perspektive. Die wenigen Sätze, die er der ländlichen Bevölkerung schenkt, sind wenig erhellend und wenig differenziert geschildert, eher von Ressentiments durchwirkt. Aber diese Feststellung soll die Leistung des Autors nicht in Frage stellen.


Was wir gemeinhin, nach meinem naiven Verständnis, mit Geschichte verbinden, ist das Leben und Wirken der Könige, Kaiser, Staatsoberhäupter, der Aristokratie und des höheren oder gehobenen Bürgertums, die Grenzverschiebungen durch Kriege, Allianzen, Völkerwanderungen, der Versuch, Ursachen von Konflikten zu ergründen. Herausragende Persönlichkeiten im Gutem wie im Schlechten lenken die Geschicke der Menschheit. Dabei wäre es durchaus interessant, Geschichte von unten zu denken. Was bewegt die Menschen in einem bestimmten Territorium, diese oder jene Gesellschaftsordnung zu wählen oder welche Vorstellungen vom eigenen Leben begünstigen die ein oder andere Art der Herrschaftsordnung, diese oder jene Herrschenden an die Spitze zu spülen? Vielleicht trügt mein mangelndes Geschichtsverständnis ja auch und die Wissenschaft hat diese Aufgabe wenig öffentlichkeitswirksam bereits bewältigt.


Das deutsche Wort Geschichte wartet mit einer Doppelbödigkeit auf. Denke ich an die Erdgeschichte, kommen mir die aufeinander geschichteten Erdzeitalter in den Sinn, Erdschichten, in denen man Fossilien aller Art, Dinosaurierknochen, Reste von ausgestorbenen Pflanzen und Tieren, Artefakte wie Tonkrüge, Scherben, Werkzeuge und Waffen finden kann. Dann ist Geschichte auch immer Erzählung, in der die Vergangenheit lebendig wird. Das ist die große Stärke des Werkes Wolfszeit.


Es wird eine Lebenswirklichkeit deutlich, die, in kosmischer Zeitrechnung gedacht, nicht lange zurückliegt und uns dennoch verschlossen scheint. In den kurzen Geschichten, die elegant schriftliche Zeugnisse der Zeit einbetten, lebt das Lebensgefühl der Nachkriegsjahre von 1945 bis 1955, die Widersprüche, Freud und Leid des Alltags, was die Menschen bewegt, wie sie gedacht haben, gedacht haben mochten wieder auf, der Autor antwortet auf Fragen, die nicht im Fokus der Geschichtswissenschaften stehen oder bisher nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind. Natürlich entsteht dabei eine gefährliche Melange zwischen Fakten und Fiktion. Wer dem Autor nicht traut, kann die vielen aufgelisteten Quellen selbst studieren.


Ich bin dankbar dafür, dass sich Harald Jähner der Fleißaufgabe gewidmet hat und ich das nicht tun musste. So eloquent wäre mir die Beschreibung der Nachkriegszeit sicher nicht gelungen, abgesehen davon, dass mir die Energie dazu gefehlt hätte. Ich darf an dieser Stelle die Lektüre von Höhenrausch empfehlen. Das Buch hat mir noch besser gefallen als Wolfszeit. Höhenrausch beschreibt, wie die Deutschen ins dunkelste Kapitel ihrer Geschichte hinein gerutscht, Wolfszeit, wie sie mithilfe der Alliierten heraus gestolpert sind.


Wenn ich mir vor Augen führt, welch zentrale Rolle der kalte Krieg und die Angst des Westens vor der mit deutscher Hilfe in Russland aufgegangenen marxistischen Saat für die in den westlichen Teilen Deutschlands gestrandeten Menschen gespielt hat und wie unterschiedlich sich das Leben der Menschen in Ostdeutschland entwickelt hat, könnte ich schnell schließen, dass es nicht lohnt, die Geschichte aus der Sicht der Regierten zu beleuchten, obwohl das Sein das Bewusstsein bestimmt. Ober bestimmt das Bewusstsein einiger weniger das Sein der Masse? Die ausgewogene Mischung guter Zutaten macht den guten Cocktail aus. Und was ein guter Cocktail ist, entscheidet nicht der Barmixer.

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