Was stimmt und was stimmt nicht?
- rbr0303
- 12. Juli
- 6 Min. Lesezeit

Was stimmt und was stimmt nicht!
Manchmal ist es besser, einfach loszulaufen, selbst wenn man nicht weiß wohin. Vielleicht kommt man dort an, wo man nicht hinwollte. Vielleicht findet man auf dem Weg ein Ziel, das all die Jahre im Unterbewusstsein schlummerte, den Sehnsuchtsort, eine versteckte Passion, einen Menschen, ein Objekt, ein beeindruckendes Gebäude, eine Pflanze, eine Blume, einen Gedanken, eine Geschichte oder die Lust an der Bewegung, vielleicht entdeckt man das Flanieren als Freizeitgestaltung oder gar als neuen Lebenssinn, als bereichernde Erfahrung, soweit man Talent und Muße dafür mitbringt.
Mir spukte vor kurzem durch den Sinn, ob Flanieren im 21. Jahrhundert überhaupt noch möglich ist. In den großen und kleinen Einkaufsstraßen, seien sie überdacht oder auch nicht, sieht man entweder Menschen, die eilig über das Pflaster oder den Asphalt hetzen oder Touristen, auf der Suche nach zukünftigen Erinnerungen an die fremde Stadt, sei es im Bild, als Kleidungsstück, Accessoire oder als Gaumenfreude. Die Gefahr unabsichtlich umgerannt oder umgefahren zu werden von einem Mitmenschen, der gebannt aufs Smartphone schaut, gab es im 19. Jahrhundert noch nicht, auch keine elektrischen Roller und keine E-Bikes, dafür Männer mit Schildkröten, wie jede Expertin und jeder Experte auf dem Gebiet des Flanierens sofort bestätigen wird.
Ich flaniere ohne Sinn und Verstand und glaube damit auf dem richtigen Weg zu sein, sogar dort, wo das gar nicht geht, in der Provinz, auf dem Waldweg, am Strand und sogar in der Wüste. Mit Muße die Muse zu finden, die einem das meiste bedeutet, im öffentlichen Raum, auf der Straße, mir ist sie dort noch nicht begegnet, und das Museum zählt nicht, obwohl man dort vielleicht als eitler Gockel, prächtig herausgeputzt herumstolzieren oder unauffällig Menschen, Kunstwerke, Kaffeemaschinen beobachten, betrachten, auf sich wirken lassen kann, im geschützten Gebäude, mit dem kleinen Nachteil, dass man auf den Museumspfaden seinerseits zum Objekt der Beobachtung wird, aber das ist man auf den Boulevards der großen Metropolen sicher auch.
Inzwischen beobachten, bewerten, beurteilen Maschinen den Menschen im öffentlichen und digitalen Raum nach eingeübten Kriterien. Die Vorstellung, dass Menschen, die Videoaufnahmen anschauen, um Gefährdungslagen zu erkennen, manchmal abschweifen, die Aufmerksamkeit aus Langeweile auf skurrile Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen in der öffentlichen Nische lenken, ich denke gerade an nichts Bestimmtes, hat romantische Züge, deckt sich, wenn nicht heute, so doch in naher Zukunft nicht mehr mit der Wirklichkeit. Was stimmt und was nicht stimmt, entscheidet dann die Maschine, der Algorithmus oder die KI der Zukunft.
Seit wir nur noch in der Kirche oder in religiösen Zusammenhängen glauben, glauben wir, gar nicht mehr zu glauben und sind uns unserer Einschätzungen gewiss. Zweifel bedeutet Schwäche und die können wir uns weder im Jahrmarkt der Eitelkeiten, im Beruf und schon gar nicht in den klassischen oder den sozialen Medien leisten. Wer eine Einschätzung mit den Worten beginnt „es könnte sein, dass …“ redet im besten Fall zu einer Person und auch die wird sich eine Minute später nicht mehr daran erinnern, was der Zweifler gesagt hat. Meinungen prallen nur im Modus der emotionalen Entrüstung aufeinander, siegt das bessere Argument, dann nicht, weil es schlüssiger ist. Das wissen Wahlkampfmanager, PR-Profis und Marketingagenturen und eigentlich wissen wir es auch.
In Westeuropa predigte über Jahrhunderte die Kanzel die Wahrheit. Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und damit bei den Stellvertretern Gottes auf Erden. Das ging soweit, dass die weltliche Macht die Einigkeit mit den Stellvertretern Gottes auf Erden auf die ein oder andere Art herbeiführen musste - entweder sie setzte sich durch, es gab einen Kompromiss oder sie knickte ein. Im 21. Jahrhundert ficht jede Gesellschaft oder jeder Bereich der Gesellschaft der westeuropäischen Sphäre, was stimmt und was nicht auf eigene Weise aus, meist auf emotionalen Kampfplätzen der Straße, der Plätze, des Netzes, der klassischen Medien, der Parlamentswahl. Noch ist die Meinung der Einzelnen relevant, mitnichten entscheidend. Wenn wir Erkenntnissen psychologischer Studien glauben wollen, folgen 25% der Bevölkerung unreflektiert den Vorgaben der Herrschenden, also nicht alle. Aber der Prozentsatz kann sich auch ändern. Es ist relevant, was wir für richtig halten, was vielleicht richtig ist, vielleicht gibt es sogar absolute Wahrheiten, einige werben dafür, vor allem die, die sie kennen.
Im Dreieck zwischen Glauben, Wissen und Wahrheit arbeitet das Gehirn effizienter, wenn es glaubt, was andere als richtig vorgeben, in anderen Worten, es verbraucht weniger Energie. Wenn ich mich beim Flanieren auf dem Boulevard in der von der öffentlichen Hand versprochenen Sicherheit wiege, anstatt ständig nach rasenden Rollern, Fahrrädern oder verwirrten Mitmenschen mit Küchengeräten in der Hand Ausschau zu halten, öffnen sich Räume fürs Betrachten von Kunst im öffentlichen Raum, von Auslagen in kostspieligen Juweliergeschäften, von interessanten Gestalten und den sich daraus entspinnenden Gedanken. Nutze ich den Glauben, dass ich mich in der Fußgängerzone in einem sicheren Umfeld bewege, hingegen nur, indem ich auf dem Smartphone Reels oder Tiktok Videos schaue, verkümmert mein Denkorgan auf längere Sicht - neben der Tatsache, dass ich für die Mitmenschen zur Gefahr mutiere. Das weiß ich in erster Linie aus den Medien, die ich konsumiere, und - vielleicht bilde ich mir das nur ein - aus eigener Erfahrung, ein bisschen Entspannung tut dem Hirn gut, nach längerem Konsum von „einfachen“ Inhalten dämmert es vor sich hin, schaltet ab, legt sich schlafen, man schlendert an der Buchhandlung vorbei, ohne sie zu wahrzunehmen, ein Buch wöge eine Tonne, untragbar.
Noch nie gab es in der Menschheitsgeschichte so viele Bücher, Zeitschriften, Filme, Zeitungen, Online Informationsquellen wie Videokanäle, Bilder, Fotos, Nachrichtenplattformen wie im 21. Jahrhundert, noch nie prasselten so viele Informationen aus zweiter Hand auf den Einzelnen ein, es wundert nicht, dass das Gehirn Auszeiten im Wachzustand sucht. Wie kann ich mich vor der Flut schützen und die richtigen Schlüsse ziehen, wie erzeuge ich ein kohärentes Weltbild, wie entscheide ich, was stimmt und was nicht?
Wem die Schule des Denkens über Wahrheit, Glaube und Wissen zu anstrengend ist - siehe einige lohnenswerte Literaturhinweise unten -, seit dem 20. Jahrhundert beschäftigen sich auch Psychologen zunehmend mit diesen Themen, sie nähern sich den Begriffen auf eine etwas andere Weise, indem sie Hypothesen in mehr oder weniger repräsentativen Studien testen. Vor kurzem las ich einen Artikel in einer Zeitschrift, die ich auf die Schnelle nicht mehr finde. Demnach hat Norbert Schwarz, ein Psychologe der University of Southern California fünf Kriterien identifiziert, anhand deren wir entscheiden, was stimmt und was nicht bzw. was wir für wahr halten. Ich gebe das so wider, wie ich es verstanden habe, der geneigte Leser, mag, sollte es selbst prüfen.
Ist die neue Information kompatibel mit Informationen, die als richtig erachte?
Ist die neue Nachricht in sich konsistent, logisch?
Glauben andere an die neue Information?
Ist die Quelle glaubwürdig?
Gibt es Evidenz für die neue Information?
Die Prüfschleifen 1, 2 und 5 laufen in meinem Bewusstsein ab, 3 und 4 im gesellschaftlichen Umfeld, ich kopiere oder besser rekonstruiere sie als Ergebnis gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse im Nachhinein in mein Bewusstsein. Wenn man im Internet, ggf. mithilfe von KI Agenten, im Netz stöbert, findet man ähnliche Ansätze, wie man neue Informationen auf Richtigkeit bewerten und zu einem neuen Glauben über die Welt kommen kann. Meistens geben wir uns damit zufrieden, ob andere, die wir als glaubwürdige Quelle erachten, die neue Information als richtig bzw. wahr bewerten, wie oben bereits angedeutet. Ob die neue Information in mein Weltbild passt, die neue Nachricht in sich konsistent ist und ich hinreichende Beweise dafür finde, ist, wie gesagt, aufwendig, das Ergebnis hängt auch von meiner persönlichen Konstitution ab, davon, wie fit ich gerade bin, wie ich das Denkorgan trainiere, welche geistigen Übungen ich ihm tagtäglich zumute. Aber darauf zu vertrauen, dass eine von mir als glaubwürdig erachtete Quelle der Information den Stempel der Wahrheit verpasst, ist mir bei wichtigen Themen auch zu wenig, was die Frage aufwirft, was mir wichtig ist und wie ich das entscheide.
Ich kann nur die wenigsten Informationen allen fünf Prüfschleifen unterziehen, Restzweifel bleiben, ob ich bei diesem Denkprozess die richtigen logischen Schlüsse ziehe und ob ich Fakten als Beweise und diese als hinreichend erachte, auch ich vertraue meist externen Quellen und spiegele deren Ergebnisse in mein Weltbild. Umso wichtiger ist es, diese mit den Ergebnissen anderer Quellen zu vergleichen, insbesondere vor dem Hintergrund, was wir inzwischen wissen: Large Language Models generieren glaubwürdige Texte ohne menschliches Zutun. Unterschiedliche Quellen zu einer neuen Information zu konsultieren, ist eine Binsenweisheit, mache ich aber viel zu selten, zum Glück bin ich der einzige, dessen Verstand so operiert.
Wir sind nicht nur rational erfassbare Maschinen - zumindest im Moment noch nicht -, es gibt noch andere Zugänge zur Wahrheit, die ich hier nicht unter den Teppich kehren, hier aber auch nicht aufzählen will. Meine kognitiven Mittel sind beschränkt, das gilt auch für die kognitive Erkenntnisfähigkeit kleinerer und größerer gesellschaftlicher Gruppen. Rational kann man nur bis zu einem gewissen Grad in sich hinein hören, man sieht auch nicht, was hinter dem Rücken vor sich geht, egal ob man sich umdreht oder nicht, das lernen wir als Kind beim Kasperletheater und vergessen es dann wieder.
Ich flaniere gerne, in dem Sinne, wie ich es verstehe und ich hoffe, dass das Flanieren die eigene Anschauung schult, die unmittelbare Erfahrung, denn phänomenale Erkenntnisse sind der Ausgangspunkt und das letzte Korrektiv allen Wissens.
Literatur
Psychologie: Schnelles Denken, Langsames Denken von Daniel Kahnemann
Philosophie: Platon, Aquin, Gödel, Nietzsche, Heidegger, Jaspers, Benjamin (Flanieren) und viele andere


