Was soll ich denn jetzt bloß tun?
- rbr0303
- 1. Apr.
- 5 Min. Lesezeit

Was soll ich denn jetzt bloß tun?
Als ich mit einer App meine bescheidenen und nur noch rudimentär vorhandenen Spanischkenntnisse für den anstehenden Urlaub auffrischen wollte, stieß ich auf Übungen, die den Ausdruck “el tiempo libro“ mit „Freizeit“ und „Freizeit“ mit „el tiempo libre“ übersetzten. Dabei fiel mir ein, dass man Freizeit im Französischen ähnlich mit „temps libre“ umschreiben würde. Abgesehen von der Frage, ob man allein schon wegen der erlernten Muttersprache ein anderes Verhältnis zur freien Zeit entwickelt, steht Freizeit nach meinem Verständnis als Zeit zur freien Verfügung in Abgrenzung zur Arbeit und anderen Verpflichtungen und geht einher mit tief empfundener Freiwilligkeit der gewählten Beschäftigung.
Wenn Berufstätige, Schüler oder Studenten an Freizeit denken, dürfte ihnen zunächst die Zeit in den Sinn kommen, die nichts mit der Arbeit oder den Anforderungen des Lerninstituts zu tun hat. Bleiben wir bei denen, die den überwiegenden Teil ihrer Wachzeit einer selbständigen oder unselbständigen Arbeit nachgehen und dafür im Gegenzug Geld erhalten, mit dem sie persönliche Bedürfnisse oder die Bedürfnisse ihrer Nächsten befriedigen. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten die Arbeitszeit zurückgegangen ist, verbleibt nach Abzug der Zeit von und zur Arbeitsstelle und nach Abzug familiärer und anderer Verpflichtungen den meisten zum Glück nur wenig Zeit, irgendwelchen Hobbys nachzugehen.
Aber was soll ich mit der freien Zeit anfangen, wenn ich müde, ausgelaugt und ausgebrannt bin oder vor Zorn schäume und mich kaum beruhigen kann? Warum sollte man sich kein üppiges Abendmahl gönnen! Das Blut verrichtet im Magen-Darm-Trakt wertvollere Dienste als im Hirn, mag es schrumpfen, umso besser, verbraucht es schon weniger Energie. Bewegung wird überbewertet. Wollen wir ewig leben? Die freie Zeit lässt sich in den sozialen Medien unschwer vertreiben. Ein Video, ein Reel und schon hängt man am Haken, bewegte Bilder wirken magisch, die vorgekauten Häppchen ersparen das Denken, ja genau „das denke ich auch“ reicht, genug überlegt heute.
Wir sind nie allein. Wir werden ständig beobachtet und beobachten die anderen. Das geht mit Bewertungen einher, die schmerzen, die Brust mit Stolz erfüllen oder gleichgültig wahrgenommen werden. Wer sich gar nicht mehr zeigt, im Sofa verfault, es kaum noch ins Bett schafft und wenn ja, von dort nicht mehr aufs Klo, vor irgendeinem Bildschirm dahin vegetiert, mag der Bewertung der Mitmenschen entgehen, es sei denn, er oder sie postet die verdienten Wundmale in den sozialen Medien, was der präfrontale Kortex der Betroffenen wegen der kleinen Anstrengung als Zumutung verwerfen dürfte. Vielleicht regt sich ein Funke Selbstachtung und man denkt, so kann es nicht weitergehen. Wie überwindet man die Todsünde Faulheit? Es gar nicht so weit kommen zu lassen, ist leichter gesagt, als getan. Hilfe anbietende Ratgeber füllen Regale in Buchhandlungen.
Das fortschreitende Alter setzt der Wollust natürliche Grenzen, die damit einhergehenden Gefahren für Körper und Seele, gar für das ewige Leben schwinden wie die damit verbundenen Freuden, ein Kraftwerk verliert den Brennstoff, muss vielleicht stillgelegt werden und hinterlässt kleine Lücken, die geschlossen werden wollen. Für die meisten vollzieht sich der Prozess schleichend und der Wunsch nach ewiger Jugend, für die man gerne die Seele an den Teufel verkauft, brennt nicht in jedem lichterloh. Oder hat die Wollust zu unrecht einen schlechten Ruf?
Was soll ich mit der freien Zeit anfangen, wenn ich nicht oder nicht mehr arbeiten muss? Sinkt mit dem Alter die Konzentrationsfähigkeit? Werde ich die Aufmerksamkeitsspanne eines Jugendlichen - gemessen in der Länge eines Tiktok Videos (Tiktok war eine Soziale Plattform in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts) - je wieder erreichen oder einen Satz, der maximal aus drei Worten besteht, je wieder lesen können, ohne dass es mir wie das vorzeitige Knallen eines Sektkorkens vorkommt? Nach jahrelanger Selbstausbeutung oder nachdem uns jahrelang gesagt wurde, was wir tun sollen - am einfachsten hat es der Soldat, der mit ausgeknipstem Gehirn in den Krieg zieht - sollten wir nicht einfach mal nichts tun, kleine Wunder entdecken und bestaunen, ertragen, was dabei mit uns passiert oder 10.000 Schritte gehen, 10 km in flottem Tempo laufen, Gewichte stemmen, den Körper stählen, Yoga, Pilates oder Waldbaden praktizieren, danach Spanisch lernen und dabei Gleichgesinnte treffen. Fürs Nichtstun setzen sich nur wenige öffentlich ein, auch wenn es zu unseren Liebelingsbeschäftigungen zählt, ganz gleich wo wir uns gerade befinden mögen. Das Schimpfen und Schelten auf die da oben und die da unten muss sich ganz auf politische Akteure konzentrieren, auf Agenten, die andere für uns beobachten, auf die wir reagieren, wie andere aus unserer Blase es uns vorschlagen, man will sich doch zugehörig fühlen, denn wer bin ich, wenn ich nicht in der Illusion leben kann, mich im anderen zu spiegeln oder nicht mehr als Übermensch das Maß aller Dinge, das Maß aller moralischen Maßstäbe oder das Ergebnis meines Denkens und Handelns bin?
Was soll ich nur mit mir anfangen? Wem kann ich auf den Geist gehen, wen nerve ich so, dass er oder sie es nicht mehr mit mir aushält? Muss ich einen neuen Lebensgefährten, eine neue Lebensgefährtin, ein neues Umfeld suchen, das ein bis zwei Jahre benötigt, um mich mit meinen erworbenen sozialen Inkompetenzen kennen und erleiden zu lernen, bis es mich auskotzt wie verdorbenen Mangosaft? Oder wir gingen schweigend weiter, dann könnte doch auch für die oder den anderen nur das Weitergehen selbst den Zweck des Beisammenseins bilden - aus Kafkas Schloss geklaut und umgebaut, das Schloss, in das K. nie einzudringen vermochte. Niemand kann ausschließen, dass er nicht eines Tages K. wird und sich im selbst gesponnenen Netz sozialer Beziehungen und sei es auch noch so gewissenhaft in Interaktion mit der sozialen Umwelt entstanden sein, hoffnungslos verheddert oder noch viel schlimmer in einer Situation endet, die selbst vom Außenstehenden, wie vom Protagonisten analysiert, ausweglos ist. Wer das Spiel nicht versteht, verliert. Man muss nicht jedes Spiel ausprobieren. Aber das ist nicht nur dann eine Herausforderung, wenn man nicht weiß, was man mit sich anfangen soll. Will mich der Gedanke davon abhalten, mich neuen Hobbys zu widmen, neue Sportarten auszuprobieren, vielleicht Kite Surfen, einem Filmclub beizutreten, ferne Länder zu bereisen?
Ich kann denken und wahrnehmen, was ich will, aber nicht wollen, was ich will, fällt mir ein, hilft uns aber gerade nicht weiter. Ich schwimme im unendlichen Meer der Möglichkeiten und genieße kurz das Chaos der sich auftuenden Chancen. Aber der Wille zur Macht ist nur solange ein brauchbares Gefühl, wie es die schwindenden mentalen und körperlichen Kräfte nicht sabotieren oder ich nicht einsam auf einer verlassenen Insel lande. Dass mich das schlechte Gewissen beim Sprung ins kalte Wasser auf den Meeresgrund zieht, schließe ich selbstbewusst aus. Oder doch die kleine Momente im Leben genießen, den Sonnenuntergang am fernen Meereshorizont, die Kirschblüte in Japan, die Begegnung mit der Fremden im Café in Georgien oder dem Wasserbüffel im Okavangodelta? Das würde mindestens ein Jahr meiner Lebenszeit kosten. Dann genießen wir doch lieber den Geruch der Gischt und den Geschmack des Meerwassers an der nahegelegenen Küste, die mit dem Zug erreichbar ist. Nachhaltiges Verhalten macht zufrieden und glücklich. Älteren Menschen den Platz in der Straßenbahn anbieten oder über die Straße helfen, kann nur noch wenige Jahre gut gehen. Und doch öffnet die freie Zeit der letzten Jahre ungeahnte Möglichkeiten, altruistische Impulse auszuleben.
Das Gewitter hat sich verzogen. Warum sollte ich mich damit beschäftigen, was ich nun tun sollte? Ich mich fühle wohl, obwohl oder gerade weil ich weiß, wo ich die nächsten Tage sein werde. Immer schön die Balance halten. Auf das Kite Surfen werde ich bis auf Weiteres verzichten. Ich hätte Angst, dass ich vor Erleichterung viel zu hoch in den Himmel aufstiege.


