Unterwegs zu Swann - Marcel Proust - Teil 1
- rbr0303
- 3. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Unterwegs zu Swann - Marcel Proust - Teil 1
Wenn ich an die Erlebnisse und Erfahrungen beim Lesen des Romans „Unterwegs zu Swann“ denke, ringe ich nach Worten, es ist zum Verzweifeln, als scrolle ich durch Instagramm, YouTube, Vevo oder ein Online Nachrichtenmagazin, leuchten ständig Gedankenkomplexe auf, ich verweile kurz, überlege, ehe meine Aufmerksamkeit auf das nächste Motiv gelenkt wird. Ich frage mich, ob der Medienkonsum die Funktionsweise meines Bewusstsein umgestaltet oder die sozialen Medien einen Effekt ausnutzen, der in uns angelegt ist, wahrscheinlich letzteres. Die Bilder und Videos, die kurz meine Aufmerksamkeit fesseln, mich auf den nächsten vergleichbaren Inhalt lenken, verlöschen, ohne in meinem Inneren nachweisbare Spuren zu hinterlassen, die Zeit, die ich damit verbringe, scheint verloren, vielleicht gönnen sie meinem Hirn ein wenig Ruhe, die Gedanken bei der Lektüre von Unterwegs nach Swann regen an, reihen sich ein, schwingen nach, bestätigen, erweitern, verändern die eigene Sichtweise auf die Welt, regen an, die verlorene Zeit wiederzufinden, weil man ansonsten wie ein Fisch durchs Leben schwimmt. Das geht eine zeitlang gut, aber wir sind keine Fische. Natürlich muss man nicht Proust lesen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.
Wir schauen einer empfindsamen Künstlerseele zu, beim Wachsen, wie sie sich findet, wie sie aus der Fülle von Eindrücken, Gedanken, Gefühlen und was sind diese nichts anderes als Erinnerungen -leben wir nicht ständig in der Vergangenheit, wenn unser Geist aktiv ist - ein kohärentes Selbst konstituiert, aus denen als notwendige Bedingungen ihre Existenz quillt. Wie ich aus dem Nachwort entnehme, konnte Rilke mit dem zweiten Teil des Romans nichts anfangen und reihte ihn in bereits Dagewesenes ein. Als ich das las, fühlte ich Widerspruch in mir aufkeimen. Warum?
Eine der größten Herausforderungen, die das Leben empfindsamen Seelen stellt, ist es, den Umgang mit dem mächtigsten Gefühl zu erlernen oder zugrunde zu gehen. Fast jeder blöde Actionfilm garniert die Handlung mit einer kleinen Liebesgeschichte und sei es nur, um die Interessen des Begleiters oder der Begleiterin zu befriedigen. „Un amour de Swann“ beschreibt - auf teils amüsante Weise - die Liebesblödigkeit des reichen, kultivierten, in den höchsten französischen Kreisen geschätzten Kunstliebhabers und Intellektuellen Swann. Der wird als assimilierter Jude in die elitären, meist aristokratischen Zirkel eingeladen, hat erreicht, in den Jockey Club aufgenommen zu werden, dem elitärsten Zirkel der Pariser Gesellschaft, als Erbe einer jüdischen Bankiersfamilie war das in dieser Zeit anscheinend eher ungewöhnlich. Sein Geheimnis scheint darin zu liegen, dass er in den höchsten Kreisen immer die richtigen Worte findet. Dass Swann aufgrund wirtschaftlicher Motive in den elitären Kreisen hofiert wird, habe ich entweder überlesen oder Proust führt es nicht aus.
Der Autor schildert die Figur ohne allzu große Dünkel, aber eben auch als Schürzenjäger, der seine soziale und wirtschaftliche Stellung ausnutzt, um attraktiven Frauen niederen Standes nachzusteigen. Er lebt nicht um zu arbeiten und braucht nicht einmal den Rausch des Alkohols, um sich die Liebes seines Lebens schön zu trinken. Sein Kunstsinn leitet ihn ins zeitweise Verderben, in den Liebesrausch zur Kokotte Odette de Crecy, die er als solche darin nicht erkennt. Swann mag den Kommunikationscode der feinen Gesellschaft beherrschen, sein Unterbewusstsein bleibt ihm verschlossen. Keine unwillkürliche Erinnerung führt ihn zu sich selbst. Beim Nachdenken darüber, wie das Themas einer Sonate, bis dahin die musikalische Verkörperung seiner Liebe zu Odette, in Motiven zerfleddert, öffnen sich seine Augen für die Realität, er erkennt, dass seine Liebe erloschen ist. Er ist Kunstliebhaber, er beobachtet Kunst, ist aber kein Künstler. Als er in Odette die Gestalt aus Botticellis Gemälde erkennt, verlässt er die Beobachterperspektive und projiziert Kunstbeobachtung oder Erkenntnisse der Beobachtung in eine für ihn „reale“ Person, in die aus seiner Sicht „reale“ Welt, ein zutiefst menschliches Phänomen. Der Verstand oder das Bewusstsein rechtfertigt das blöde Verhalten seines Körpers mit allen Mosaiksteinchen, die in die Erzählung passen. Aber so entsteht kein wahrhaftiges Leben und schon gar keine Kunst.
In der Ausleuchtung des Innenlebens von Swann, in der Reibung der verinnerlichten sozialen Realitäten, der Gewalt der Gefühle über das Denken, dem Aufbegehren des Intellekts, der Interpretation der einbrechenden Indizien aus der Umgebung im Licht der aufbrausenden Gefühle beschreibt der Protagonist Marcel die Reflexion über das mächtige Gefühl, ohne sich der Gefahr auszusetzen, daran zu verzweifeln oder um genau das zu verhindern. Es musste der kultivierte Kunstliebhaber Swann sein, den er als Spiegel seiner Seele aussucht. Die Wertschätzung der Swanns der Welt ist die Sehnsucht Prousts.
Schöne Sätze aneinanderreihen, kann vielleicht heute schon und wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen, ein Large Language Model und sicher viel besser, als ich es vermag. Wenn‘s nicht passt, schreibt man den nächsten Prompt. „Spiel‘s noch einmal Sam,“ sodass ich mich erinnere, bis es mich vielleicht sogar berührt. Schreiben, um zu gefallen oder Ansprüche zu erfüllen, reicht nicht aus. So entsteht Konfektionsware, vielleicht sogar Kunsthandwerk. … „ … mächtige Vögel durchzogen den Bois, … und fielen mit schrillen Schreien auf große Eichen ein, die .. die unwirtliche Öde des Hains zu verkünden schienen und mich verstehen lehrten, welcher Widersinn darin liegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz ihnen fehlen muss, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. … Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig, in der wir sie uns denken, weil es bequemer für uns ist. … ; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur ein wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen und Avenuen sind flüchtig,… wie die Jahre.“ (Proust - Aus der Suche nach der verlorenen Zeit)
Die Bilder und Videos, die kurz meine Aufmerksamkeit fesseln, mich auf den nächsten vergleichbaren Inhalt lenken, verlöschen, ohne in meinem Inneren nachweisbare Spuren zu hinterlassen, die Zeit, die ich damit verbringe, scheint verloren, vielleicht gönnen sie meinem Hirn ein wenig Ruhe, die Gedanken bei der Lektüre von Unterwegs nach Swann regen an, reihen sich ein, schwingen nach, bestätigen, erweitern, verändern die eigene Sichtweise auf die Welt, regen an, die verlorene Zeit wiederzufinden, weil man ansonsten wie ein Fisch durchs Leben schwimmt. Das geht eine zeitlang gut, aber wir sind keine Fische. Natürlich muss man nicht Proust lesen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Ich möchte die Zeit nicht missen, die ich der Lektüre dieses Romans geopfert habe, zumal das Wetter das Kajakfahren ohnehin nicht erlaubte. Doch dazu vielleicht mehr in einem anderen Essay. Lassen wir Prousts lange Sätze weiter nachwirken, während im Zeitalter der Beschleunigung die Schnitte in Filmen immer kürzer werden, die Aufmerksamkeitsspanne erweitern sie allemal, nicht nur beim Lesen.


