Tugend in schamlosen Zeiten
- rbr0303
- 4. Jan.
- 3 Min. Lesezeit

Tugend und Scham sind Begriffe, die Philosophen, Schriftsteller und zuletzt Psychologen seit Tausenden von Jahren walken, kneten, formen, bearbeiten und so verstaubt, dass es mir aussichtslos erscheint, Ihnen neues Leben einzuhauchen. Aber sollten wir uns deswegen, davon abhalten lassen, damit zu spielen, uns damit zu beschäftigen, ihnen für unser Leben und Streben neue Bedeutung beizumessen in Zeiten, in denen kaum eine Person auf einer dicht bevölkerten Fußgängerzone den Begriffen einen würdigen Wert zuzuweisen imstande wäre?
Warum also darüber schreiben?
Im Anfang war das Wort, also nur der obige Titel. Schreibe einfach drauf los, fiel mir ein. Schreibe auf, was Dir spontan einfällt. Das Mikrofon vor dem Mund hörte ich mich stammeln in der Fußgängerzone, wusste nichts zu sagen. Es würde schon einen Grund haben, weshalb der obige Titel in meinem Bewusstsein sein Unwesen trieb. Oder hätte ich das aussitzen sollen, wie so vieles in meinem Leben, vergessen nach wenigen Wochen, Tagen, Stunden?
Tugend ist eine Haltung, ein Kompass, der den richtigen Weg weist, Scham ein Gefühl, mit der Zeit verwandeln sich die Bedeutungen der Begriffe und was sie uns bedeuten und nicht nur für uns und in uns, sondern auch in sozialen Gemeinschaften und von Gesellschaft zu Gesellschaft. Sobald unliebsames Verhalten gesetzlich gegeißelt wird oder in abgeschwächter Form in Gebote gegossen wird, verliert die Tugend ihren Wert. Es braucht keinen edlen Charakter, wenn das Verhalten über Gesetze bis ins kleinste Detail vorgeschrieben wird. Es muss dann nur noch kontrolliert werden.
Während Corona war es verboten, sich mit mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit zu treffen. Die Auflagen variierten von Bundesland zu Bundesland. Vor einigen Jahrzehnten galt es als schamlos, wenn ein Paar unverheiratet zusammen wohnte oder vor der Ehe Körperflüssigkeiten austauschte. Das galt nicht nur als schamlos, sondern verstieß darüber hinaus gegen das Gebot der Keuschheit und Mäßigung. Den Trieben freien Lauf lassen, galt im öffentlichen Diskurs als verwerflich.
Wenn man über die vielschichtigen, westlichen Gesellschaften fliegt, findet man in unterschiedlichen Milieus sich widersprechende Tugend- und Schamvorstellungen, über die eine Verständigung unmöglich erscheint. Vor einigen Jahrzehnten war das vorwiegend eine Generationsfrage.
Auf welchem Schlachtfeld werden Tugend- und Schamvorstellungen heute ausgefochten? Da die sozialen Medien im öffentlichen Diskurs einen immer größeren Raum einnehmen, bringen wir uns alle viel stärker ein als in den Zeiten vor der digitalen Revolution. Wir beteiligen uns allein schon durch das Anklicken von freizügigen Fotos, Videos, Podcasts von Influencern, Firmen, Parteien, NGO`s und anderen Gruppierungen. Und dann schwätzen auch noch künstliche Intelligenzen mit, die vom Tech-Adel, feindlichen gesinnten Mächten oder Gruppen, religiösen Führern oder Parteien betrieben werden. Ich glaube nicht, dass Aliens mitmischen. Aber miteinander reden wird trotzdem zunehmend zur Herausforderung.
Manchmal denkt man fieberhaft nach und es kommt dennoch nur ein Furz dabei heraus, wenigstens mal eine analoge Wolke, mag der ein oder andere resümieren. Dabei verflacht zwar die Diskussion, aber damit müssen wir umgehen lernen im Zeitalter des Siegeszugs digitaler Medien und der digitalen Welt. Die Floskel, Schuld hat nur der Kapitalismus, hilft da nicht weiter. Verbindliche Tugend- und Schamvorstellungen zu etablieren bzw. wie diese aussehen sollten, mag früher einfacher gewesen sein, ob und bis zu welcher Ebene das überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist, darüber sollte nicht nur der Like Button entscheiden. Woher soll die Orientierung kommen? Ich würde zu einer einfachen Antwort tendieren. Treten wir einen Schritt zurück, nehmen eine Vielfalt an Büchern in die Hand und lesen sie. Aber das ist ein anstrengendes Unterfangen und vielleicht nur eine andere Floskel. Das funktioniert sicher nicht für jeden. Und doch, so mache ich das.


