The Dispossessed - Freie Geister von Ursula Le Guin, gelesen 12/2024
- rbr0303
- 22. Dez. 2024
- 4 Min. Lesezeit

Ich sitze in der Wirtschaft und studiere die Speisekarte. Die Inflation hat vor dem Restaurantbesuch nicht Halt gemacht. Lebensmittel, Energie, Löhne sind infolge der Corona Krise, des Einmarsches Russlands in die Ukraine und der darauf folgenden Sanktionen sprunghaft angestiegen. Viele Restaurants mussten schließen, andere Insolvenz anmelden. Ich wähle ein Gericht aus und bestelle, dazu ein Bier. Auf Anarres, einem Mond im Werk „The Dispossessed“ von Ursula Le Guin geht man einfach in die Kantine und isst, was der Wirt gekocht hat. Allerdings kann man dorthin nicht einmal in der Phantasie reisen, die Anarresier lassen niemanden ins Land. Ob es Shevek gelingt, dem Hainischen Offizier, der Anarres kennenlernen will, seine Heimat zu zeigen, ob er seine Landsleute überzeugen kann, den Fremden als Gast oder neuen Bewohner zu akzeptieren, bleibt am Ende des Romans offen. Shevek sitzt im Garten eines Raumschiffs, die Besatzung setzt sich aus Hainischen und Erdbewohnern zusammen. Er ist auf der Rückreise von Urras, dem Nachbarplaneten. Er musste dort fliehen, weil er sich an einem Aufstand gegen die herrschende Klasse beteiligt hatte.
Die Lektüre versetzte mich in eine Reise in die Vergangenheit, ins letzte Jahrhundert, als die großen Gesellschaftsentwürfe verhandelt und ausgelebt wurden, Geschichte von einigen als Prozess begriffen wurde, Ideologien die geistige Welt beherrschten. Der Leser sieht die kommunistische und kapitalistische Gesellschaft zumeist aus der Perspektive von Shevek, der einer 170 Jahre alten kommunistischen Kohorte entstammt. Shevek ist ein begnadeter theoretischer Physiker und stammt aus Anarres. Er entwickelt eine bahnbrechende Physik der Zeit, wie ich verstanden zu haben glaube, der Überwindung der sequenziellen Abfolge der Zeit, deren technische Anwendung es erlaubt, mit Wesen, die Galaxien entfernt leben, in Echtzeit zu reden und den Raum dazwischen in Echtzeit zu durchqueren.
Der kapitalistischen Gesellschaft auf Urras begegnen wir mit wenig Sympathie. Der Glanz der Edelsteine ist mit dem Leid der Massen erkauft. Der Luxus der herrschenden Klasse gründet auf der Ausbeutung der kleinen Leute. Ich habe das kommunistische Manifest nicht gelesen. Vielleicht wäre das im Zuge der Lektüre ebenso hilfreich gewesen, wie mal wieder „Utopia“ von Thomas Morus zu studieren.
Auf Anarres leben die Anhänger der Lehre von Odo, deren Werk die Basis des Aufstands auf Urras vor 170 Jahren war und die Bibel des Gesellschaftsentwurfs auf Anarres ist. Shevek bezeichnet sich selbst als Odonier. Alles gehört allen, es gibt keinen Besitz. Die Menschen sind frei vom Besitzenwollen, nur auf den ersten Blick frei von äußerem Zwang, können Berufe wählen, in denen sie ihre Gaben entfalten können, unliebsame Aufgaben werden in Arbeitseinsätzen erledigt, zu denen man sich mehr oder minder freiwillig meldet. Solidarität ist ein hohes Gut. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist umgesetzt, zwischen Mann und Mann und zwischen Frau und Frau wohl auch. Nitzsche hätte seine Freude an dem Text gehabt. Dass Transgenderfragen keinen Raum im Werk einnehmen, mag der Zeit geschuldet sein, in der es entstand. Shevek hat in Takver eine ebenbürtige Partnerin und zwei Töchter.
Shevek kann den Entwurf einer Temporalphysik auf Anarres nicht vollenden. Die Kollegen sehen keinen Sinn in seinem Tun, sind neidisch und legen ihm Steine in den Weg, insbesondere ein Gleicher unter Gleichen, der Physiker Sabul. Shevek folgt ermutigt durch Takver und einer Gruppe den Verhältnissen auf Anarres kritisch eingestellter Freunde der Einladung von Physikern auf Urras, die ihm einen Preis für seine bisher erschienene Theorie verliehen haben.
Dort lernt er die dekadent geschilderte kapitalistische Oberschicht kennen, nicht ohne den fremden Reizen zu erliegen. Als er keine Zweifel mehr hat, dass die Urrasier sich mithilfe der Anwendung seiner Theorie wirtschaftliche Vorteile und damit Macht zu erlangen versuchen und einer dekadenten Abendgesellschaft buchstäblich auf den Tisch kotzt, verschließt er sich in der ihm zugewiesenen Wohnung auf dem Universitätscampus und führt seine Theorie zu einem vorläufigen Höhepunkt.
Mit dem Heft in der Tasche flieht er mithilfe seines Dieners zu den Aufständischen. Er hält auf einer Demonstration eine Rede, die von der Staatsmacht mit einem Gewaltexzess beendet wird. In der Botschaft der Erde findet er Zuflucht. Das Werk will er der Weltengemeinschaft zur Verfügung stellen. Was daraus wird, wissen wir nicht. Die Botschafterin der Erde bricht den Lichtkegel des anarresischen Blicks auf Urras, indem sie Urras idealistische Attribute zuschreibt. Die Bevölkerung der Erde ist von ehemals 9 Milliarden auf 500.000 geschrumpft. Die Menschen haben den Planeten verwüstet. Das Mikroplastik wird für immer bleiben. Auf Urras ist die Natur intakt.
Der Kellner bringt das Schnitzel, während das Bier halb leer auf dem Tisch steht. Am Nachbartisch lässt sich eine junge Frau den Rest ihrer Käsespätzle in einen Styroporbehälter einpacken. In fünf Minuten werde ein zweites Bier bestellen.
Frauen auf Urras studieren nicht, begleiten keine wichtigen gesellschaftlichen Funktionen, geben sich dem Luxus und der Illusion hin, dass sie ihre Männer kontrollieren und so Einfluss auf die Geschicke der Welt nehmen. In den eigenen vier Wänden wandeln die Frauen die Taille aufwärts gänzlich unbekleidet umher. Die makellose Schönheit der Schwester eines bekannten Physikers verwirrt Sheveks Gefühle. Die Schöne macht ihm Avancen. Im Suff auf einer Party in ihrem Domizil geht er im Schlafzimmer zu weit, bedrängt sie sexuell. Aus Angst ihren Ruf zu ruinieren - ein Verhältnis im Verborgenen, ein Abenteuer kann sie sich mit Shevek durchaus vorstellen - stößt sie ihn zurück. Die Szene liest sich heute wie eine Vergewaltigung, wird aber im Roman nicht weiter verfolgt. Sie lässt ihn abholen, er darf fortan das Universitätsgelände nicht mehr verlassen. Verrat auf intimer Ebene könnte weh tun, wenn Shevek mit der urrasischen Oberschicht nicht bereits abgerechnet hätte. Die Familie auf Anarres wartet auf ihn, die Erstarrung der anarresischen Gesellschaft löst sich mit seiner Wiederkehr. Die permanente Revolution schreitet voran, indem sich der Kreis schließt.
Der Offizier bemerkt kurz vor der Landung der Raumkapsel auf Anarres, dass die Hainisch in den Jahrtausenden ihres Daseins schon alle möglichen Gesellschaftsformen ausprobiert haben, er aber nicht. Le Guin findet dafür natürlich poetischere Worte und für das Werk eine poetische Form, ein bisschen Science und viel Fiction. Wo möchte ich lieber leben?
Ich bezahle und verlasse das Lokal, sodass ich demnächst wieder kommen und die Geschichte von vorne beginnen kann. Das Geld wechselt den Besitzer und kommt auf verschlungenen Wegen wieder zu mir zurück oder eben nicht zu mir, sondern zu jemand anderem. In der Routine vollzieht sich die Kugelgestalt der Zeit, die ewige Wiederkehr des Gleichen.


