Tag und Nacht und auch im Sommer - Erinnerungen von Frank McCourt
- rbr0303
- 4. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

Tag und Nacht und auch im Sommer (Teacher Man) - Erinnerungen von Frank McCourt
Viele träumen davon, ihre Memoiren zu schreiben, haben etwas zu sagen oder meinen, etwas zu sagen zu haben, wovon die Nachwelt wissen sollte, was sie den Nachkommen mitteilen wollen oder worüber sie sich beim Schreiben klar werden wollten; viele haben Angst als Staubkorn im All vergessen zu werden. Es kommt aber nicht darauf an, was man erlebt hat, es kommt nicht auf den Inhalt an, sondern wie das Erlebte geschrieben, gestaltet, präsentiert wird. Es ist entscheidend, wie es auf die anderen wirkt. Nur aus den wenigsten Tragödien werden Bücher, Filme oder gar Kunstwerke.
Ich habe gerade den (Kurz-) Roman „Everyman“ von Philip Roth gelesen - zum zweiten Mal. Dazwischen liegt mehr als ein Jahrzehnt. Damals fühlte ich das Älterwerden nicht in den Gliedern und mir fiel auch im Spiegel nichts auf, was mich darauf stupste. Die Lebensentscheidungen und die Erlebnisse des namenlosen Protagonisten blieben mir damals wie heute fremd.
Es ist nicht einfach, die Worte zu finden, wenn man das eigene Älterwerden zu beschreiben sucht. Philip Roth schildert es als körperlichen Verfall, der einen tiefen Graben aufreißt zwischen dem Protagonisten und den Vorstellungen, die er sich von sich in der Welt macht. Das Älterwerden wirft ihn auf sich selbst zurück.
Das Älterwerden und das Altwerden betrifft heutzutage fast alle. Das Alter kann grässlich werden; das Grässlichste ist nicht der Tod, sondern für viele der Weg dorthin. Das sehen nicht wenige anders, allen voran Philip Roths Protagonist.
Altwerden bewahrt uns vor dem frühzeitigen Tod, dem frühzeitigen Ende des irdischen Lebens, schenkt uns Zeit, das Leben zu entwerfen, dem Entwurf Taten folgen zu lassen, Träume zu verfolgen, lebendiges Mitglied einer Gemeinschaft zu sein. Die äußeren Umstände sind die äußeren Umstände und doch sind wir es, die sie erschaffen. Wenn die von uns erschaffenen äußeren Umstände die realen äußeren Umstände nicht hinreichend abbilden - wir liegen immer etwas daneben, so sehr wir uns auch bemühen, körperliches und seelisches Leid trüben das Bild ebenso wie das Glück, das einem im Leben widerfährt - stolpern wir bestenfalls in komische Situationen. Der Protagonist in „Everyman“, dem bis zum Alter von 50, vielleicht 60 Jahren die Frauen nachliefen, dessen Herz nach dem Renteneintritt 25 Bypässe zieren, reicht am Strand einer jungen Joggerin einen Zettel mit seiner Telefonnummer.
Schon die junge Joggerin, vielleicht im Alter von 30 Jahren denkt in dem ein oder anderen einsamen Moment, die Jugend sei vorbei und es ginge nur noch abwärts. Das muss nicht einmal körperlich der Fall sein. Wem es vergönnt ist, den vierzigsten Geburtstag bei guter Gesundheit zu feiern, mag sich wehmütig an den dreißigsten erinnern. Die Lebenszufriedenheit will in jedem Jahrzehnt, in jedem Jahr neu erobert oder weniger martialisch ausgedrückt, neu entdeckt werden.
Organe und größere Zellkomplexe führen ein Eigenleben, altern nicht selten in der eigenen Geschwindigkeit, verfallen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Ein junges Gehirn ist mit einem dahin siechenden Herzen zum baldigen Tod verurteilt. Der Körper funktioniert nur als Gesamtkunstwerk.
Mit dem Älterwerden erschlafft die Haut; jüngere Haut wirkt attraktiver. Je älter man wird, desto höher werden die Kosten, die man aufwenden muss, um sich an die Jugend krallen zu können. Der Kampf gegen die Veränderungen des Körpers während des Älterwerdens sind vergebens. Dennoch lohnt es sich, den eigenen Körper als Tempel zu betrachten, würdig zu pflegen und nicht als Mittel zum Zweck zu benutzen.
Im Laufe des Lebens und beim Laufen verändert sich, wie wir denken. Einige geistige Fähigkeiten leiden, andere blühen auf. Wir schöpfen aus Erfahrung wie der Protagonist in McCourts Erinnerungen. Wir sind anderen Lebensumständen, einem anderen Hormoncocktail ausgesetzt, wählen unser Lebensumfeld aus oder quälen uns im falschen Leben, wollen ausbrechen, sind ganz zufrieden, tragen Verantwortung oder auch nicht; das alles beeinflusst das Denken, beflügelt oder stutzt es, ermüdet uns, nutzt uns ab, während unser Gedächtnis ordnet, sortiert, vergisst, Narrative erfindet.
Emotionen bleiben uns bis ins hohe Alter erhalten; worüber wir uns freuen, wovor wir uns fürchten ändert sich ständig. Ich stelle mir viel zu selten die Frage, ob Freude und Furcht nur aus mir selbst heraus entstehen bzw. welchen Einfluss äußere Umstände wie das soziale Umfeld dabei spielen. Der Protagonist in McCourts Erinnerungen fürchtet sich vor der ersten Unterrichtsstunde an der High School. Der Autor schildert das nachvollziehbar. Indem wir das lesen und darüber nachdenken, kommen wir eigenen Beklemmungen und Ängsten auf die Spur. Es braucht nicht immer ein Bad in Zen Meditation.
Das Leben ist ein Gesamtkunstwerk, vor dem wir nur staunen können, es sprengt unsere Vorstellungen und unser Verständnis. Das Leben wird Gesamtkunstwerk, in dem es fesselnd erzählt wird. Aus Anekdoten werden Geschichten, aus Geschichten die Geschichte. Frank McCourt zeichnet sein Erleben nach, wie es ihm die Erinnerung suggeriert, eigentlich kein spannendes Thema; sein Leben als High School Lehrer verlief wenig spektakulär, ohne Breaking-Bad-Momente, ohne dass sich daraus ein kompliziertes Doppelleben entsponnen hätte; es bezieht Spannung aus der Frage, wie er sich zum gefeierten Bestsellerautor entwickelte. „Ich probier‘s.“ lautet der letzte Satz.
Das abgrundtief Böse verbannt er weitgehend in den Prolog. Das Böse kommt im weiteren Verlauf subtiler daher. In einer Geschichte tritt es kurz an die Oberfläche. Ein amerikanischer Junge italienischer Abstammung liebt ein Mädchen irischer Abstammung. Alles deutet auf eine glückliche, gemeinsame Zukunft hin. Eine irische Gang schlägt ihn grundlos zusammen. Danach lässt er sich in eine andere Klasse versetzen, will nichts mehr von seiner Liebsten wissen. Der Protagonist McCourt bedauert, im Klassenzimmer keine Antwort darauf gefunden zu haben, wie der Zyklus des Grauens zu unterbrechen sei. Im Prolog lautet die Antwort: Vergebung. Die hätte dem armen Jungen im Augenblick der Schmach auch nicht geholfen, denn Vergebung ist eine Frucht, die hoch hängt und langsam reift.
Das Leben als Lehrer verdichtet McCourt auf wenige Seiten, das meiste blendet die Erinnerung aus, wie den körperlichen Verfall, das Älterwerden kommt kaum darin vor. Ich habe einige Goodreads Kommentare gelesen. Lehrer äußern sich, widersprechen dem Autor oder jubeln ihm zu, lesen das Buch als Fazit seiner Lehrtätigkeit oder als Blick auf die amerikanische Gesellschaft. Und wie so oft, sagen die Kommentare mehr aus über deren Verfasser als über das Buch. So soll es sein. Auch darum geht es beim Lesen von Fiktion und beim Schreiben. Dass wir mit uns selbst in Berührung kommen, dass wir uns nicht fremd bleiben. Dabei kann uns ein Large Language Model nicht helfen. Und auch kein Video. Ein Video halten wir selten an, noch seltener spulen wir zurück. Das Bild und der Ton konsumieren zu viel Aufmerksamkeit. Gute Filme, das ist ein anderes Thema. Ich habe keine Ahnung, ob die Filmrechte an „Teacher Man“ bereits verkauft sind, doch den Film braucht es aus meiner Sicht nicht. Die wahre Genießerin, der wahre Genießer wird sich von der Flasche nicht täuschen lassen, selbst wenn sie oder er sich von ihr hat verführen lassen, den Inhalt zu kosten. Die Geschmäcker bleiben verschieden.
McCourt schrieb drei Fiktionen über sein Leben, die sich ergänzen und den Fokus jeweils auf einzelne Lebensabschnitte stellen. Meine Skepsis gegenüber Narrativen habe ich in einigen meiner Essays bereits geäußert. In der Welt finden wir Chaos und Durcheinander vor. Warum wir auf etwas schauen und auf anderes nicht, welche Unterscheidungen wir treffen, bleibt uns verborgen. Wer schreibt, hat den Leser im Blick. Die Messung beeinflusst maßgeblich das Messergebnis, nicht nur in der Quantenphysik. Philip Roth lässt Everyman so enden: „He was no more, freed from being, entering into nowhere without even knowing it. Just as he‘d feared from the start.“ Und doch wäre ohne Everyman die Welt eine andere gewesen, hätte die Welt einen anderen Verlauf genommen.


