Schachnovelle - Zwei Reaktionen
- rbr0303
- 2. Jan.
- 3 Min. Lesezeit

Es ist interessant und erschreckend zugleich zu beobachten, inwiefern eine Passion - im Falle der „Schachnovelle“ das Schachspiel - eine Figur sowohl aus einer schweren Krise retten kann, als sie sie auch in den Wahnsinn zu treiben vermag.
Letzteres trifft Dr. B. vermutlich in einer solchen Heftigkeit, weil die imaginären Schachpartien in seiner Gefangenschaft das Einzige waren, das ihm Halt im Leben gab und ihn davor bewahrt hat, den dünnen Faden des Lebens loszulassen; sie haben ihn anfänglich davor geschützt, in seiner Einsamkeit vollkommen wahnsinnig zu werden. Dem Leser der „Schachnovelle“ wird jedoch im weiteren Verlauf der Handlung vor Augen geführt, dass dieser Halt, diese mögliche Rettung vor dem Abgrund, den Protagonisten allmählich in den Wahnsinn stürzen lässt; Dr. B. verliert die Kontrolle über sich selbst.
Die gewonnene Partie auf dem Schiff könnte ihn durch die hervorgerufene Ekstase erneut in diese hilflose Situation zurückkatapultiert haben; er kann seine Passion für das Spiel nicht kontrollieren – vielmehr kontrolliert sie ihn; sie hat ihn fest im Griff und bestimmt über sein Handeln und Denken. Zweig beschreibt seinen Zustand als „fiebrige Verwirrtheit“ (S. 84), was erneut darauf verweist, dass er nicht Herr seiner Sinne ist.
Erst durch einen äußeren Einfluss – durch das harte Kneifen eines Passagier, dem er seine Geschichte anvertraut hat – findet er wieder die Kontrolle über sich, hört auf zu spielen, entschuldigt sich und verschwindet. - L
Ich war völlig überrascht, das dünne Taschenbuch hinten im Bücherregal zu finden. Mir war nicht bewusst, dass es sich in meinem Besitz befindet. Die Blätter sind so vergilbt und dunkel geworden, dass sich die schwarze Druckfarbe kaum mehr davon abhebt. Ich holte es hervor, fing einige Tage später - die Brille mit der stärksten Vergrößerung auf der Nase - an, zu lesen und war schnell wieder im Fieber, das mich bereits bei der ersten Lektüre erfasst hatte, fast wieder jung geworden.
Die Schachnovelle ist eines der Bücher, das auch gerne als gebundene Ausgabe in der Privatbibliothek stehen dürfte. Ich versuche mich zu erinnern, was mich als junger Mensch beim Lesen faszinierte. Vielleicht, dass ich mich in den zahlreichen Handlungssträngen verlieren konnte? Denn damals hatte ich noch nicht erfahren, wie es ist, über Wochen hinweg mit niemandem sprechen zu können, weil die sprachlichen Fähigkeiten die Verständigung mit Worten unmöglich machten. Und es war keineswegs so, dass ich sozialer Interaktion und dem guten Willen anderer, mit mir in näheren Kontakt zu treten, beraubt gewesen wäre. Also nur eine ganz vage Ahnung erlaubt mir, die Wirkung der in der Novelle thematisierten Foltermethode nachzuempfinden. Aber fühlen sich nicht viele Menschen heutzutage einsam? Die Seele greift nach allem, was sie in die Finger bekommen kann und sei es nur ein Spiel. Schnell wird aus Spiel ernst. Einsamkeit verengt den Blick, den Geist, die Gefühlswelt.
In der Schachnovelle rettet die Schachobsession den Protagonisten vor dem Verrat der Geheimnisse, die Angehörige und Vertraute ins Unglück und ihn ins endgültige Verderben gestürzt hätte. Dabei geht er fast zugrunde. Die Rettung aus den obsessiven Gedanken kommt von wohl gesinnten Mitmenschen, in der Binnen- wie in der Rahmenhandlung.
Als ich das Werk von Zweig das erste Mal las, lag die Aufarbeitung der NS-Zeit noch nicht lange zurück. Ich glaube, dass dieser Aspekt der Novelle damals für mich eine weit größere Rolle spielte als bei der Wiederbegegnung mit dem Stoff vor einigen Wochen. Das soll nicht heißen, dass die Gefahren totalitären Machtmissbrauchs nicht gerade heute wieder aktuell wären. Ich denke oft darüber nach.
Und dennoch bedrängt mich beim Schreiben dieser Zeilen ein Gedanke. Indem Zweig nicht die allerschlimmsten Gräueltaten des NS-Regimes beschreibt, subtilere Arten des Terrors in den Blick nimmt, das Opfer aus der Mitte der Gesellschaft reißt, wird uns bewusst, dass das Grauen viele aus unserer Mitte treffen kann. Sind wir im digitalen Zeitalter nicht viel angreifbarer? Geben wir nicht viel zu viel preis? Welche Geheimnisse haben wir noch, glauben wir noch zu haben, wie schützen wir sie? Würde uns eine Obsession das Leben retten und wer käme uns zu Hilfe, ohne dabei selbst in den Abgrund zu fallen? In der Schachnovelle ging die Bedrohung von der Staatsmacht aus. Heutzutage schweben noch viele andere dunkle Wolken über uns.
Die vielschichtige Schachnovelle war des Wiederlesens wert. Weil man sich verändert, entdeckt man gute Bücher immer wieder neu, vor allem, wenn man darüber schreibt. Aber das mag meiner persönlichen Vorliebe geschuldet sein. -R


