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Meister und Margarita - Von Michail Bulgakow

  • rbr0303
  • 7. Dez.
  • 4 Min. Lesezeit
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Meister und Margarita - von Michail Bulgakow - Erlösung


Ich habe die Übersetzung von Alexander Nitzberg gelesen. Sie fängt an mit den Worten „Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich. Zwei Herren zeigten sich. Der erste im grauen Sommeranzug. … Der zweite ein junger Mann.“ und endet mit den Worten „Und bis zur nächsten Vollmondnacht wird den Professor nichts mehr belästigen: Nicht der namenlose Scharfrichter des Gestas. Nicht der hartherzige fünfte Statthalter von Judäa, der Reiter Pontius Pilatus.“ Der erste Herr, Berlioz, Vorsitzender der Moskauer Literaturvereinigung, verliert seinen Kopf, der zweite, ein junger Dichter namens Iwan Nikolajewitsch landet im Irrenhaus, wird später entlassen, arrangiert sich mit dem System und endet als Professor der Geschichte, den seine Dämonen in jeder Vollmondnacht heimsuchen und mit dem Michail Bulgakow „Meister und Margarita“ enden lässt.


Wenn die Vielzahl unterschiedlicher Interpretationsansätze ein Gütezeichen guter Literatur wäre, stünde Bulgakows Roman im Regal herausragender Literatur in vorderster Reihe; überlassen wir die Verleihung der Gütesiegel den Profis im Literaturbetrieb, den Experten und dem einzelnen Leser, verstehen wir Gütesiegel als Marketinginstrumente und kümmern wir uns nicht weiter darum. Dass die handelnden Personen und Handlungsstränge eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten zulassen, deckt sich mit meiner Leseerfahrung; das Lesen des Romans verwirrte mich, angefangen damit, dass ich auf den ersten 150 bis 200 Seiten weder einen Hinweis auf einen Meister noch auf eine Margarita fand. Wesentliche Sinnangebote erschlossen sich mir erst im späteren Verlauf der Handlungen und nach dem Lesen, als reife der Text im Unbewussten nach; Sekundärquellen waren hilfreich, selbst wenn ich manche Ansichten nicht teile. Ich nutze oder benutze Literatur u.a. zur Erforschung meiner Seele und der Seele von Gemeinschaften aller Art, erspare mir Yogakurse und Meditationsübungen, vielleicht zu meinem und zum Schaden der Gesellschaft; in „Meister und Margarita“ fand ich reichhaltig Nahrung.


Bulgakow verdrillt und flechtet in seinem Werk meisterhaft unterschiedliche Ebenen, das Leben im real existierenden Stalinismus, der Roman im Roman erzählt eine Geschichte über Pontius Pilatus und Jesus, die magische Welt um den Teufel Wotan, der in Moskau mit seinem Gefolge das Leben durcheinander wirbelt und bündelt die einzelnen Litzen in einen einzigen Handlungsstrang am Ende des Romans, bevor der sich wieder auflöst. Der Dichter Iwan, der durch die Begegnung mit dem Satan im Irrenhaus landet, wird Professor der Geschichte, der Meister, der den Dichter im Irrenhaus aufsucht, war Historiker, gewann so viel Geld, sodass er sich ganz der Schriftstellerei hingeben und so den Roman über Pontius Pilatus verfassen, doch nicht vollenden konnte; Funktionäre verlieren ihren Kopf, enden im Irrenhaus, sterben oder verschwinden. Dabei hat der Teufel nicht überall seine Hände im Spiel.


Der Satan nennt sich Wotan wie Mephisto im Faust (dort: Votan), hat mit dem Mephisto im Faust allerdings wenig gemein, ebensowenig wie Margarita mit Gretchen, auf den ersten Blick. Der Satan ist eine menschliche Erfindung, die alten Griechen kannten ihn nicht; die Götter waren weder gut noch böse, sondern trugen neben positiven Zügen im Handeln auch Charakterschwächen zur Schau, den Menschen ganz ähnlich. Wotan ist Bulgakows Erfindung, nicht die der Menschen im Roman. Die reagieren unterschiedlich auf die magischen Ereignisse. Das technokratische System, deren Vertreter und diejenigen, die sich darin zurechtfinden, leugnen die Existenz des Satans; benehmen sie sich nach der Begegnung mit dem Unerklärlichen ungewöhnlich, verwahrt sie die Staatsmacht im Irrenhaus.


Bulgakow verzichtet darauf, dem technokratischen System einen Kopf zu geben. Verständlich. Jedes Phänomen wird in der technokratischen Logik rational erklärt. Muss der Glaube an rationale Erklärungen nicht grundsätzlich stärker sein als der Glaube an Magie? Gewiss. Doch rationale Erklärungen reichen nur soweit der kollektive menschliche Verstand Modelle ersinnt, die Phänomene so vorhersagen, wie sie die Beobachtung bestätigt. Die Welt, die über den menschlichen Verstand hinausgeht, bleibt dem Menschen verschlossen.


Bulgakow stellt selbst den exponiertesten Vertreter des Römischen Reichs in Judäa als Funktionär dar, der seiner Funktion, seiner kranken Leibhaftigkeit, seinem sozialen Umfeld zürnt, der seine Handlungen als Erfüllung seiner Funktion sieht und dabei über Leichen geht. Viel lieber würde Pilatus die Gespräche mit Jeschua fortsetzen, als ihn hinrichten zu lassen, nicht aus Mitleid, sondern weil er Erlösung sucht und hofft oder spürt, dass er sie in den Gespräche mit Jeschua fände. Er lebt in seinem prächtigen Palast, liebt seinen Hund, der liebt ihn. Beziehungen zu Menschen pflegt er nicht, zu gefährlich, er muss auf der Hut bleiben. Die Einsamkeit begleitet ihn still.


Die schöne Margarita geht den Pakt mit dem Teufel ein; sie zögert nur kurz, gibt sich der Intuition hin, dass sie damit den Meister und ihre Liebe zum Meister retten kann. Sie war davor schon bereit, ihr privilegiertes Leben in der luxuriösen Wohnung an der Seite des ungeliebten Ehemannes aufzugeben und ein bescheidenes Leben an der Seite des Meisters zu führen. Doch es kam nicht dazu, weil der Meister nach der Kritik an seinem Werk psychisch stark angeschlagen, das Irrenhaus aufsuchte. Margarita ist von der Kunst des Meisters überzeugt und vertritt ihre Haltung vehement, als sie zur Hexe geworden mit der ihr verliehenen Macht die Wohnung des Literaturkritikers zerstört, der das Werk des Meisters so gnadenlos zerrissen hatte. Nachdem Margarita die Rolle der Königin auf dem Ball Wotans übernommen und die Ehrerbietungen der geladenen Gäste entgegen genommen und erduldet hat, stellt ihr Wotan einen Wunsch frei. Sie wünscht sich Erlösung für eine Kindsmörderin, die ihr Wotan gewährt. Fast muss er sie drängen, ihm gegenüber ihren Herzenswunsch zu äußern. So vereint Wotan Margarita schließlich mit ihrem immer noch hadernden Meister, indem er ihn aus dem Irrenhaus befreit und in die illustre magische Gesellschaft einführt.


Wotan erlöst Margarita, den Meister, Pontius Pilatus, sein Gefolge, wenn die Leserin oder der Leser es will, auch sie bzw. ihn, den Meister, indem er ihm nahelegt, den Roman zu vollenden, Pilatus, indem der Meister den Roman vollendet. „Du bist frei. Du bist frei. Er wartet auf Dich“, schreit der Meister, damit Pilatus es hört. Wotans Gefolge, Margarita, der Meister, Pilatus betreten den magischen Raum und finden letztlich Erlösung. So schreitet Pilatus mit Jeschua auf einem Mondpfad voran, während er sich mit ihm austauscht. Die Figuren im magischen Raum finden weder Erlösung aus sich selbst heraus, noch in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Welt ist mehr als das Selbst und mehr als die Konstruktion der Teilhabe an gesellschaftlichen Konstellationen. Der Historiker Iwan Nikolajewitsch bleibt dem totalitären System verhaftet und wird in jeder Vollmondnacht von der unerklärlichen Geschichte, von seinen Dämonen heimgesucht; das totalitäre System wird ebensowenig erlöst; es wurschtelt weiter vor sich hin. Wer hatte noch nie den Eindruck, in Spinnennetzen gesellschaftlicher Kommunikationskontexte zu kleben, gefangen, der drohenden Gefahr ausgeliefert! Dass Erlösung nicht in diesen gefunden wird, selbst, wenn man entkommt, ist ein religiöser Gedanke, der uns heutzutage selten in den Sinn kommt.

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