Krieg und Frieden von Lew Tolstoi
- rbr0303
- 12. Aug.
- 8 Min. Lesezeit

Krieg und Frieden von Lew Tolstoi
An keinem Ort der Welt kann man so unbemerkt Texte und Bilder speichern bzw. verschwinden lassen wie im World Wide Web. Nichts geht verloren, aber auch nichts wird gefunden. Die Fülle an Informationen, an Content oder Inhalten erstickt das eigenmächtige Denken nahezu jeden Users, der sich im Scrollen verloren hat. Geheimdienste, Tech-Konzerne und andere autokratische Organisationen, die Einzelnen übel mitspielen wollen, mögen die Daten für ihre Zwecke nutzen - der Anflug einer Verschwörungstheorie sei mir hier gestattet. Suchmaschinen und KI Werkzeuge führen ohnehin ihr eigenes Leben. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Ach, wenn der den Raum einnehmende Atem doch nur so schlecht wäre, dass die verdammte Stechmücke vom Himmel fiele, wenn man sie anhaucht. Stattdessen fliegt sie hinter dem Kopf immer lauter surrend, je näher sie kommt. Minuten später juckt es irgendwo auf der Haut, am Arm, am Knöchel, dort wo sie gar nicht gewesen sein kann, weil sie doch ständig ins Ohr gesurrt hat.
Bleiben wir dem Andenken an Hölderlin verpflichtet und lesen lieber, was bleibet. „Krieg und Frieden“ führt uns an den Anfang des 19. Jahrhunderts, ins Russland während der napoleonischen Kriege. Im Nachwort meiner Ausgabe steht, dass Tolstoi das Werk nicht als Roman betrachtete bzw. diese Gattungsbezeichnung für „Krieg und Frieden“ ablehnte. Und in der Tat finden sich viele militärtaktische, politische, geschichtsphilosophische und gesellschaftliche Betrachtungen in diesem voluminösen, großartigen Werk der Weltliteratur. Tolstoi wagt es sogar, sich in die Gedanken und Gefühlswelten der Mächtigsten der Geschichte hineinzuversetzen. Daneben nehmen wir am Leben von Menschen - hauptsächlich - aus der damaligen russischen Oberschicht teil, was für mich die reizvollste Erfahrung beim Lesen war. Wir leiden mit manchen Figuren, freuen uns mit ihnen, teilen ihren Schmerz, sehen das Unheil kommen, möchten sie warnen, Kindern beim Kasperletheater gleich, sind von Wesenszügen anderer Figuren abgestoßen; Tolstoi verurteilt nicht, beschreibt innewohnende Ambiguitäten und geht doch viel milder mit seinen Lieblingen um. Er windet sich ins Bewusstsein der Protagonisten und beschreibt deren Denken, Freuden, Leiden in deren unterschiedlichen gesellschaftliche Verflechtungen. Wir lesen in den Dialogen, wie sie Denken und Reden der jeweiligen gesellschaftlichen Situation anpassen oder dabei scheitern, erfahren, welchen Irrtümern sie dabei aufliegen. Wovon hängt mein Denken über das Gelesene und mein Denken ganz allgemein ab? Solange ich meine Gedanken nicht teile, brauche ich mich nicht um die anderen zu scheren. Ist das so oder denke ich die Meinungen der anderen beim Lesen trotzdem mit? Bei dem, was bleibet, ist das sicher so und bei allem anderen, was ich lese, auch und mag mir die Leseerfahrung noch so individuell erscheinen. Man sollte nicht darauf verzichten, das Gelesene durch den Fleischwolf der eigenen Lebenserfahrung und des eigenen Denkens zu drehen. Was bleibet, entscheiden andere. „Krieg und Frieden“ zu lesen, hebt das Gemüt, belebt das Denken und bereichert das Gefühlsleben. Es lohnt sich.
Das Werk wirft unter vielen anderen die Frage auf, womit man sich beschäftigt, wenn man keine finanziellen und materiellen Sorgen und viel Zeit zur freien Verfügung hat. Das ist ein Zustand, den alle Gesellschaften anstreben und auf den kaum ein Individuum eine schnelle Antwort findet, obwohl heute ein weitaus größerer Anteil der Menschheit mit der erfreulichen Problematik konfrontiert ist als im 19, Jahrhundert. Man mag argumentieren, dass die, gemessen am Anteil der Menschen, die im Elend leben, relativ Wohlhabenden auf Kosten des Elends der Masse wie die Eliten im Europa des 19. Jahrhunderts und heute zusätzlich auf Kosten der Umwelt zukünftiger Generationen leben. Alles was wir hoffen können, ist, dass der Anteil der relativ Wohlhabenden zunehmend steigt und alles nicht so schlimm kommt, wie die Prognosen verheißen. Leider entwickeln sich die gesellschaftlichen Fähigkeiten der Menschen, das Miteinander sozialverträglich zu gestalten, nicht in der gleichen Geschwindigkeit wie der technische Fortschritt.
Tolstoi schrieb „Krieg und Frieden“ ungefähr zwischen 1860 und 1870, also fünf bis sechs Jahrzehnte nach den napoleonischen Kriegen. Wie die Gesellschaft heute operiert und funktioniert, hat sich zwar grundlegend gewandelt, der Mensch aber kaum. Was den Menschen früher wichtig war, dürfte es heute immer noch sein; ebenso erfreuen sich die Menschen und die Menschheit noch immer der gleichen charakterlichen Merkmale; die Programme, die uns seit Jahrtausenden seit Jahrmillionen antreiben, passt das Erlebte und Erfahrene mit äußerster Bedächtigkeit an, was uns auf der einen Seite erlaubt, als stille Beobachter am Tisch der Abendgesellschaften Platz zu nehmen und in die Herzen der Protagonisten zu blicken; auf der anderen Seite tappen wir heute in ähnliche Fallen wie vor 200 oder 300 Jahren; hoffentlich nicht mit noch verheerenderen Folgen als Anfang des 19. Jahrhunderts. Tolstoi untersucht gesellschaftliche und kulturelle Antworten auf die Katastrophe, die Europa und Russland damals heimsuchte, beschreibt Verstrickungen erzählend, analytisch und philosophisch, geglückte Rezepte stehen auf dem Tisch der Rostows, die Wirkung verabreichter Arzneien bleibt beschränkt, der Glaube heilt wirkungsvoller.
Der gebildete, gutmütige Pierre, ein, wie man früher sagte, zunächst illegitimer Sohn, der den Weg ins Herz seines Vaters des Grafen Besuchow gefunden und auf Kosten des Vater lange Zeit außerhalb Russlands hauptsächlich in Frankreich verbracht hatte und nach internationalen Maßstäben erzogen wurde, quält sich in Russland in den unterschiedlichsten Kreisen, immer bemüht, das Gute und Richtige zu denken und zu tun, verletzt ein ums andere Mal den gesellschaftlich angebrachten Code, stolpert durch Leben wie der Elefant im Porzellanladen, wird von der Gesellschaft abgelehnt und nur deswegen zu Gesellschaften geladen, weil man weiß, dass ihn der einflussreiche und schwer reiche Vater gegenüber seinen legitimen Töchtern favorisiert. Pierre wirkt durch sein Äußeres nicht gerade attraktiv auf Frauen, er sucht Erkenntnis und erbt stattdessen das Vermögen und den Titel des Vaters. Obwohl ihn der Großteil der russischen Aristokratie für einen Trottel, einen tumben Tor hält, avanciert er mit der Erbschaft zu einer der besten Partien Russlands. Ständig lässt er sich manipulieren, durch den zukünftigen Schwiegervater in die Heirat mit der schönen Helena, einer selbstsüchtigen und nur an seinem Wohlstand interessierten Weib, das ihn ständig betrügt, taumelt in die Gesellschaft der Freimaurer, nach deren Prinzipien er in Petersburg als einziger ernsthaft zu leben versucht, ordnet u.a. an, dass seine Bauern Schulen und Krankenhäuser bekommen, was sein Verwalter nicht umsetzt, stolpert auf Schlachtfelder und überlebt unverletzt, bleibt in Moskau, als die gesamte Aristokratie vor dem Einmarsch Napoleons das Weite sucht, wird gefangen genommen, leidet mit den einfachen Soldaten und kommt wieder frei. Das Glück lässt ihn nicht im Stich und belohnt ihn am Ende mit einer glücklichen Ehe mit Natascha, einem der wenigen aufrichtigen Herzen des Werkes - die untreue Frau Helena ist wohl an einer gescheiterten Abtreibung gestorben, Tolstoi deutet das nur an, mehr als die damalige Gesellschaft sollen wir nicht wissen. Wir lauschen Pierres tiefgründigen inneren Monologen; Hoffnungen, Zweifel, Sinnsuche, Interpretationen des Erfahrenen und seine Schlüsse daraus, neue Pläne mäandern über Seiten hinweg. Das ist herrlich zu sehen und zu hören. Andrej Bolkonski ist und bleibt von Anfang des Werkes bis zu seinem Tod Pierres bester Freund.
Andrej ist ein aufgeklärter Intellektueller, der überlegt, rational handelt und nur in der Liebe tollpatschig agiert. Was ihn mit Pierre verbindet, ist die Suche nach dem richtigen Weg, danach, das Gute und Richtige zu tun. Andrej verstrickt sich nicht in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen, er gestaltet sie vielmehr oder begibt sich erst gar nicht in sie hinein, wenn er sie als oberflächlich, als Schein von etwas Bedeutendem und nicht als bedeutend bewertet. Er strebt anfangs nach Ruhm; so zieht er in den Krieg, wird verwundet, erkennt, dass ihn Ruhm nicht glücklich macht. Als Verwalter seines Gutes ist er erfolgreich, setzt um, was Pierre vorschwebt. Ideen, wie die Verwaltung Russlands zu modernisieren wäre, führen ihn in ein Ministerium, wo seine Ansätze scheitern. Im Gegensatz zu Pierre sieht Andrej nicht mit dem Herzen; das bewundert er im Freund. Pierre schätzt die analytischen Fähigkeiten und die in den erwünschten Ergebnissen mündende Tatkraft. Beide lieben die schöne Natasha Rostowa.
Nach dem Tod seiner Frau verliebt sich Andrej in Natasha, weil sie wie Pierre eine Seite in ihm zum Schwingen bringt, die er zuvor unterdrückt hatte; er macht ihr einen Antrag. Für die Familie Rostow ist Andrej akzeptabel. Die Rostows können überhaupt nicht mit Geld und Besitz umgehen und sind drauf und dran zu verarmen. Pierre respektiert, dass Andrej und Natasha sich die Ehe versprechen, außerdem hält er sich auch wegen seines Aussehens und seiner Art nicht würdig, auf Natashas Liebe hoffen zu dürfen. Andrej entscheidet sich, um zu genesen, ein Jahr im Ausland zu verbringen und lässt die junge Verlobte allein in Russland bei ihrer Familie zurück. Natasha fühlt sich zunehmend einsam und verfällt den Avancen des gut aussehenden, schneidigen Verführers Anatole, dem Bruder von Helena. Beide treibt die tierische Natur, der Fortpflanzungstrieb, dem Anatole bei jeder Gelegenheit, Natasha das erste Mal nachgibt. Ihre in der Familie Rostow lebende Cousine, die unglücklich in Natashas Bruder verliebte, schöne Sonja verrät Natashas geplante Flucht in letzter Sekunde, aber der Skandal ist da, Andrej wendet sich ab und zieht abermals in den Krieg. Natasha erkennt ihren Fehler und erkrankt. Der Oberbefehlshaber Kutusow, der Andrej schätzt, bietet ihm an, in den Stab zu wechseln; Andrej lehnt ab und kommandiert lieber eine kämpfende Einheit. Bei einem wie in jedem Krieg typisch sinnlosen Auftrag, wird er schwer verwundet; dabei beginnt seine Seele zu heilen; Natasha erholt sich auf ihre Weise im Kreise der Familie; mit einem Verwundetentransport gelangt Andrej auf das Anwesen der Rostows in Moskau. Auf Betreiben Natashas laden die Rostows ihr Hab und Gut von ihren Equipagen und Fuhrwerken und nehmen stattdessen die Verwundeten mit auf das sichere Land, als sie fast als letzte Adelsfamilie Moskau verlassen. Natasha erfährt von Sonja, dass ihr früherer Verlobter unter den Verwundeten leidet und pflegt ihn zusammen mit Andrejs Schwester Maja. Andrej stirbt, seelisch im Einklang mit dem Leben.
Andrejs und Majas Vater, der alte Fürst Bolkonski, quält seine Tochter mit Mathematik und Geometrie, will sie aufs Leben vorbereiten, mit Fähigkeiten ausstatten, die es ihr erlauben, in der Männerwelt zu reüssieren, so meine These. Maja ist überhaupt nicht empfänglich für diese Wissenschaften und leidet entsetzlich unter den Lektionen, fürchtet sich davor. Ihre Talente liegen auf Gebieten, deren Zugang dem mürrischen Vater verschlossen zu sein scheinen oder die er als typisch weiblich abstempelt. Sie lebt in einer mystischen Welt des Glaubens und doch speist sich ihre Herzenswärme nicht aus dem Glauben sondern aus ihrem Wesen.
Tolstoi beschreibt hauptsächlich Frauenfiguren, die den damaligen Rollenerwartungen entsprechen, mit größter Vitalität - die Zeit Katharinas II lag mehr als ein Jahrzehnt zurück -; das kann man aus heutiger Sicht kritisieren. Manchmal drängte sich mir der Eindruck auf, dass er sich beim Schreiben in die ein oder andere Frau verliebt hat. Frauenfiguren, denen er sich intensiver widmet, haben das Herz auf dem rechten Fleck. Nicht jeder Leser dürfte die notwendige Empathie mitbringen, Freud und Leid mit den weiblichen Figuren zu teilen. Mangelnde Empathie bringt einen bei Tolstoi um das Lesevergnügen; nach der gängigen Theorie fördert umgekehrt Lesen die Empathie im realen Leben. Figuren leiden bei Tolstoi, wenn sie sich im sozialen Umfeld nicht mehr geborgen fühlen, sei es, weil sich das soziale Umfeld dramatisch ändert oder die eigene Persönlichkeit und damit der Zugang zur näheren oder weiteren Gesellschaft blockiert ist oder nur stark eingeschränkt zustande kommt. Erholung geht von der eigenen Seele aus, aber nur, wenn sie erkennt, dass das Umfeld die Arme weit öffnet.
Ich fühle mich völlig außerstande, die Komplexität und Lebhaftigkeit der Figuren, die Handlung, die Gedanken Tolstois in diesem Essay nachzuzeichnen. Ich hätte gerne mitgespielt, mitgeredet oder auch nur zugesehen und zugehört, wobei mir keine Rolle einfällt, die dem Werk zuträglich gewesen wäre. In größerer Gesellschaft hocke ich ohnehin meist nur in der Ecke und bin still, überwältigt von den vielen Gesichtern, Gesten, Mimik und vor allem von den vielen Stimmen, manchmal der Polyphonie der Meinungen. Mein Gehirn prozessiert eingehende Informationen zu langsam. Es kommt vor, dass mir erst Stunden nach einem Event etwas halbwegs Interessantes einfällt, das ich hätte sagen können. Das mag ein Grund sein, weswegen ich das Lesen so schätze. Man legt das Buch beiseite und gibt dem Denken Raum.
In der Fassung, die der Übersetzung zugrunde lag, ließ Tolstoi den Adel häufig Französisch reden. Die deutsche Übersetzung behält die französischen Passagen bei, sodass ich Teile des Werkes im Original lesen konnte. Die russisch-französische Originalfassung mag noch imposanter sein, die Übersetzung ins Deutsche von Barbara Conrad liest sich sehr flüssig, in keiner Weise sperrig, ein Vergnügen. Die französischen Dialoge und Gedanken sind im Kleingedruckten ins Deutsche übertragen. Der russische Adel war tief verflochten mit der westeuropäischen Aristokratie, man sprach eben häufig französisch, teilte Werte und Gene. In der russischen Armee dienten neben anderen Nationalitäten viele deutsche Offiziere, bis in die höchste Heeresleitung, sogar französische. Und dennoch: Die Koalitionskriege waren Geburtsjahre russischer Ressentiments gegenüber westlichen Nationen, die noch im 21. Jahrhundert kultiviert werden. Gut, das ist eine These, die zu überprüfen, ich gerne Historikern überlasse.
Wer Zeit, Muße und Ausdauer hat und wenigstens ein bisschen Empathie beizusteuern vermag, dem sei „Krieg und Frieden“ ans Herz gelegt. Es wird noch lange wirken, als Buch, gebunden oder geklebt, lange nachdem dieser Versuch einem großen Opus gerecht zu werden, schon längst vergangen sein wird. Wer dabei Steckmücken aus dem Weg gehen will, der lese das Werk im Herbst oder Winter. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Die Zukunft gestalten andere.


