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Kajak fahren

  • rbr0303
  • 8. Mai
  • 5 Min. Lesezeit

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Kajak fahren


Ich bin kein Tänzer. Dennoch zolle ich dieser Ausdrucksform Bewunderung und schaue gerne zu.


Beim Fußball, Handball oder Basketball treten Mannschaften gegeneinander an und spielen nach festen Regeln um den Sieg. Neben der begrenzten Anzahl von Spielerinnen oder Spielern, die auf dem Feld stehen, warten an der Seitenlinie meist mehr Ersatz- oder Ergänzungsspieler als gebraucht werden auf ihren Einsatz. Die Sportarten sind so beliebt, dass Menschen Geld ausgeben, um zuzuschauen, genug, dass Spieler, Trainer und Betreuer davon leben können, manche verdienen so viel, dass es für die Villa, den Pool, die Yacht, das Luxusleben, Frauen, Männer, Kinder, bis ans Lebensende reicht.


Das umstrittene olympische Komitee adelt Sportarten, indem es sie ins Programm für die olympischen und paralympischen Spiele nimmt. Seilklettern war bis 1932 olympische Disziplin, Sportklettern erstmals 2020 in Tokio (fand wegen Corona erst 2021 statt). Kanusport steht immer mal wieder auf der Streichliste. Für die Aufnahme ins Programm ist das erwartete Publikumsinteresse von Bedeutung, das sich im Nachgang sowohl für das Internationale Olympische Komitee, für die internationalen und nationalen Verbände der einzelnen Sportarten, wie auch für die Athleten monetarisieren lässt. Nationalstaaten fördern olympische Sportarten großzügiger als andere. Ich schaue gerne zu, am liebsten bei den Kanuwettbewerben.


Daneben gibt es viele andere Sportarten und Bewegungsformen, die weniger bekannt oder nur in einzelnen Nationen beliebt sind. Je weniger Menschen den Athleten zuschauen, desto geringer sind die Verdienstmöglichkeiten und desto mehr eigenes Geld müssen die Liebhaber eines Sports oder einer Bewegungsform für deren Ausübung ausgegeben.


Der finanzielle Aufwand fällt auch bei Sportarten mit vielen potenziellen Zuschauern an, wenn man aufgrund mangelnden Talents, fehlender Bereitschaft, die nötigen Opfer zu bringen, Verletzungen oder fortgeschrittenen Alters kein Spitzenniveau erreicht, die Bewegungsform liebt und aller Widerstände zum Trotz ausüben will. Großes Publikumsinteresse weckt bei vielen Menschen, insbesondere bei der Jugend, den Wunsch das Spiel auszuprobieren. Die dafür nötigen Ausrüstungsgegenstände wie Boards, Bälle, Schläger, Kleidung werden immer ausgefeilter, industrielle Massenfertigung machen sie erschwinglich.


Sport und dessen Kommerzialisierung ist in der Menschheitsgeschichte ein neues Phänomen, wenn wir von den antiken olympischen Spielen und den Gladiatorenkämpfen im antiken Rom einmal absehen. Die meisten Menschen schauen wie im antiken Rom nur zu.


Alles Lebendige strebt einen niedrigen Energieverbrauch an, viel erreichen mit möglichst wenig Aufwand. Seit der industriellen Revolution verlagern wir den Energieverbrauch mehr und mehr in künstliche Geräte, verbannen die gefährliche Natur aus unserem täglichen Leben, sogar das Denken überlassen wir immer häufiger künstlichen Maschinen. Wir möchten es bequem haben. Wenn wir die Androiden nicht mehr von Menschen unterscheiden können, wird zumindest für die Technerds dieser Welt der Beweis erbracht sein, dass wir das Bewusstsein richtig verstanden haben, so wie wir ausrechnen können, wie lange der Apfel braucht, um vom Zweig auf die Erde aufzuschlagen. Würden Androiden Kajak fahren wollen?


Intuitiv spüren die meisten, dass wir den Kontakt zu unserer tierischen Seele verlieren.


Ich empfehle, mit der 0,5% Methode zu starten. Die 1%-Methode scheint mir am Anfang übertrieben. 0,5% der täglichen Lebenszeit findet im Tagesablauf jede und jeder, um sich so zu bewegen, dass sie oder er oder es ins Schwitzen kommt. Einfach sieben Minuten früher aufstehen und gleich morgen loslegen.


Wenn nach einigen Monaten das Grundgerüst steht, kann man sich in die wilde Natur begeben. Dort lauern allerlei Gefahren. Pflanzen, Mücken, Wespen, Hornissen, Bienen, Zecken, menschliche und tierische Lebewesen, Pfosten, Zäune, Steine, Felsen, Wind, Regen, Sonne, Wasser. Blitz und Donner sollte man meiden. Wen das anfangs fürchtet, es gibt Schweißtempel für alle möglichen Bewegungsformen, dort findet man noch leichter Gleichgesinnte. Wer Sport hasst, möge gerne tanzen oder spazieren gehen.


Bäume, Sträucher, Büsche, Gräser, Blumen beleben die Seele, auch wenn man daran vorbei geht, läuft oder radelt. Manchmal kann man dabei sogar deren Duft riechen. Man lernt, Hindernisse zu erkennen, ihnen auszuweichen, lernt sich als Körper wahrnehmen und kennen.


Wenn wir nicht schlafen, ist unser Bewusstsein auf unterschiedlichen Ebenen aktiv, zumindest meistens bei den meisten von uns. Ein plötzlich auftretender, heftiger Schmerz oder Todesangst überschreibt alle anderen bewussten Erfahrungen und wirft uns von einem Moment auf den anderen ins Hier und Jetzt. Nicht jeder hat den See, den Fluss oder das Meer vor der Haustür. Das Aufladen des Kajaks aufs Autodach ist ein kritischer Moment für die Bauch- und Rückenmuskulatur. Eine falsche Bewegung und der Schmerz schießt pfeilschnell ins Kreuz.


Wer von Natur aus mit einer schwachen Muskulatur gesegnet ist, tut gut daran, diese abseits des Kajakfahrens mit Kräftigungsübungen aufzubauen. Das Ein- und Aussteigen ins und aus dem Kajak setzt minimale Beweglichkeit voraus, die jüngere Menschen mitbringen, sie fallen dabei selten ins Wasser, es sei denn sie stellen sich tollpatschig an. Langes Sitzen und Stehen verleiten den Körper, sich auf den niedrigen Energieverbrauch einzustellen und den Bewegungsradius der Gelenke einzuschränken. Ich befürchte, die Erkenntnis gelangt bei vielen erst dann ins Bewusstsein, wenn sie beim Ein- oder Aussteigen ins Wasser gefallen sind, Worte, die wir über die Auswirkungen mangelnder Beweglichkeit lesen oder hören, wiegen insbesondere bei Männern viel zu wenig, als dass sie eine Verhaltensänderung bewirkten. Um eine längere Strecke paddeln zu können, braucht man Ausdauer. Auch diese sollte man trainieren. Wasser ist ein gefährliches Medium.


Das Gefühl, im Kajak auf dem Wasser zu sitzen, dessen Bewegung, Wind und Sonne zu spüren, zu erfahren, wie der Kajak im Zuge der ersten Paddelschläge durchs Wasser zieht, ist unbeschreiblich. Ich höre das Plätschern des Wassers, sehe wie das Paddel eintaucht, stemme das Bein gegen die Fußstütze, drehe den Oberkörper und schiebe das Boot am Paddel vorbei in die Richtung, in die ich fahren will. Vielleicht kreischt ein Vogel, vielleicht pfeift der Wind und die Wellen schlagen gegen den Bootsrumpf, vielleicht spritzt mir Wasser auf den Oberkörper oder ins Gesicht, ich nehme meinen Körper wahr, spüre die Anstrengung, es herrscht friedliche Stille, weil kein Wort ins Bewusstsein dringt und das Erlebnis stört.


Erst, wenn ich eine Bootspause einlege, weil es die Situation auf dem Wasser zulässt, kehren die Worte zurück. Schwäne fliegen über mich, ein Kormoran schießt ins Wasser, taucht ab und wieder auf, ein Fisch im Schnabel oder schon im Schlund. Ein Reiher am Ufer fliegt weg, eine Schildkröte sonnt sich auf einem Baumstamm, eine Schlange zischt durchs Wasser, Wolken verdunkeln die Sonne für ein paar Minuten, es wird heute nicht regnen, das Wasser tropft von den Bäumen am Ufer, meist von Weiden, auf Kopf und Oberkörper, es fühlt sich kalt oder erfrischend an, ein Nutria rennt ins Wasser und taucht unter meinem Boot auf die andere Uferseite. Ich sehe Fische und denke, unter mir tobt der Überlebenskampf. Größere Fische fressen kleine, vielleicht gerade jetzt, während ich über sie gleite. Die Natur ist grausam und braucht uns nicht. Da vorne muss ich aufpassen, ein Baum liegt quer im Wasser, Abstand halten, wenn es mich quer gegen den Baumstamm treibt, komme ich bei der Strömung nicht wieder weg, der Kajak würde sich keinen Zentimeter nach vorne oder hinten bewegen lassen, vielleicht kentere ich, falle ins Wasser, die Strömung drückt mich unter den Stamm, ich könnte ertrinken.


Ich gebe gerne zu, das war jetzt ein erbärmlicher Versuch, vor mir zu rechtfertigen, weshalb ich so oft ins Kajak sitze und darin eine Runde auf See und Fluss oder auf dem Meer fahre und nicht viel besser als die Tirade eines urbanen Intellektuellen, der Häme über Sporttreibende schüttet. Ich lese das immer mit viel Vergnügen.

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