Innere Ruhe - Gelassenheit
- rbr0303
- 8. Apr.
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Innere Ruhe - Gelassenheit
„Jetzt soll ich es wieder gewesen sein. Ich war mal wieder an allem schuld.“ Die Frau mittleren Alters redete in der Nähe der Strandpromenade, dem Meer den Rücken zukehrend, den Oberkörper nach vorne gebeugt, aufgeregt auf ihr Smartphone ein, als wäre sie allein, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Sie wiederholte das Gesagte, als hätte eine Schallplatte einen Sprung, als säße sie auf einem Karussell, als wäre sie in einer Zeitschleife gefangen, wahrscheinlich bis die Verbindung abbrach, weil ihr Gegenüber aufgelegt hatte oder das Netz wegen der psychischen Belastung zusammengebrochen war. Obwohl ich nicht stehengeblieben war, hörte ich den Text mehrmals. Die bedauernswerte Frau schien verzweifelt und völlig unfähig, den Zentrifugalkräften ihrer Gedankenspirale etwas entgegenzusetzen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Etwas später war der Platz, an dem sie gestanden hatte, verwaist. Nichts erinnerte mehr an das hitzige Selbstgespräch.
Am nächsten oder übernächsten Morgen saß ich nach dem Frühstück unweit der Stelle, an der sich das schaurige Schauspiel abgespielt hatte, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre, blickte auf das in der Morgensonne glitzernde Meer, beobachtete Surfer und Schwimmer, die sich auf und im Wasser vergnügten und dachte: ich fühle mich völlig gelassen. Der Begriff Gelassenheit kam mir unwillkürlich in den Sinn. Im seelischen Zustand innerer Ruhe fließen die Gedanken klar oder was manchmal noch schöner ist, gar nicht.
„Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen; wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, ist die gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.“ (aus Dekalog der Gelassenheit von Papst Johannes XXIII)
Neben allen Weltreligionen beschäftigt sich die Philosophie seit der Antike mit den Facetten der Gelassenheit. Wer die mittelhochdeutschen Texte von Meister Eckhard und seinem Schüler Heinrich Seuse studiert, kommt an dem Begriff ebensowenig vorbei wie in den Bücherregalen der Buchhandlungen oder in populärwissenschaftlichen Artikeln in Psychologiezeitschriften oder in Lifestyle Magazinen.
Nicht nur die Renaissance der stoischen Lehre schwemmt Lebensweisheiten der Gelassenheit in die mediale Öffentlichkeit, in die Programme der persönlichen Trainer, der Unternehmensberater und in die HR-Abteilungen großer und mittelgroßer Unternehmen. Den Gedanken, dass gute Lektüre die Seele nährt, kann ich nachvollziehen und mittragen, wobei sich die Frage stellt, was gute Lektüre ist. Ich kann das für mich beantworten, aber nicht für andere. Mich beruhigt das Lesen. Weshalb mir der Begriff Gelassenheit auf der Uferpromenade in den Sinn kam, liegt an seiner Omnipräsenz in meiner Filterblase. Darin äußert sich ein Bedürfnis, das in den letzten Jahren nicht ausreichend gestillt wurde, obwohl ich in meinem sozialen Umfeld häufig den Eindruck erwecke, als ruhte ich in mir. Weil mir Einzigartigkeit abgeht, erlaube ich mir, die These zu formulieren, dass es vielen ähnlich geht und begründe damit die große Resonanz des Themas in der Kakophonie der Medien. Suchen wir innere Auswege aus beklemmenden, Situationen, ambivalenten Anforderungen, diametral sich widersprechenden Heilsversprechen, die sich logisch nicht auflösen lassen und emotionale Widerstände in uns auslösen?
Heilsversprechen beantworten auf einfache Art - fast möchte ich formulieren auf primitive Art - Defizite systemischer Natur, kompliziert und komplex gestalteter Problemstellungen, aber sie richten den Blick nach außen, sind Ergebnis eines hohen Erregungspotenzials und reiten auf immensen Energiewellen, die sie vor der einfach gewordenen Manipulierbarkeit der Massen gefährlich machen und gelassenere Problemanalysen und Herangehensweisen zur Problemlösung wie ein Tsunami zu überschwemmen drohen.
Im Zustand innerer Ruhe, wenn ich mich gelassen fühle, verspüre ich wenig Neigung, meinen Fokus auf persönliche oder systemische Probleme zu richten.
Der Gedanke ist mir unbehaglich aber auch nicht neu, es sei an die kritischen Anmerkungen großer Denker zum Stoizismus oder zur christlichen Lehre erinnert. Empörung setzt ein Energieniveau voraus, das im Zustand innerer Ruhe undenkbar ist. Leider habe ich den Essay von Hessel gerade nicht zur Hand. Auf der anderen Seite ist ein kühler Kopf gerade in stürmischen Zeiten von Nöten, sei es in privaten, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder zwischenstaatlichen Konflikten. Ein Eimer mit eiskaltem Wasser, ein Kühlschrank oder eine Gefriertruhe ist nicht immer zur Hand, manchmal fällt der Strom aus wie heute, so bin ich oft nicht in der Lage, angemessen auf Stress verursachende Situationen zu reagieren. Vielleicht steigere ich mich sogar in einen Zustand, wie ihn die oben beschriebene Frau erlebt hat. Und allzu oft lasse ich mich in unserer Aufregungsgesellschaft oder in meiner Blase mitreißen und stimme viel zu schnell ein in den Chor der Empörten, ohne das meist aus zweiter Hand Wahrgenommene ausreichend reflektiert zu haben.
Mit Gelassenheit erreiche ich keinen hohen Gebirgsgipfel, aber schwierige Passagen auf dem Weg dorthin überwinde ich ebenso mit innerer Ruhe, wie ich den Ausblick auf die raue und schroffe Schönheit der Bergwelt bewundern und genießen, mich der eigenen Bedeutungslosigkeit stellen kann, die Raum schafft für neue Gedanken, erfrischend wie das kalte Wasser des Gebirgsbachs; keine Mannschaft gewinnt ein Fußballspiel mit Gelassenheit, ohne die nötige Portion Aggressivität schaffe ich es nicht einmal, eine 8 kg schwere Hantel in die Höhe zu stemmen, aber vom Elfmeterpunkt ist ein kühler Kopf gefragt. Nicht nur ein Elfmeter kann spielentscheidend sein, es kommt auf jede Sekunde bis zum Schlusspfiff an. Nach der Anstrengung belohnt das Spiel mit Ruhe, zumindest die Akteure. Das ist der Gewinn, selbst wenn das Spiel verloren geht.
Wer Sport nicht mag, wer Sport hasst, wer nicht lesen mag, kann sich stattdessen in die Kontemplation eines Kunstwerks, eines schönen Gebäudes vertiefen, musizieren oder mag Gefallen an einem geistreichen Musikstück finden oder seinem Gemüt beim Tanz Ausdruck verleihen. Wohl dem, der Zeit und Muße hat.
„Nicht dass sie nicht manchmal nach einer größeren Veränderung verlangt und jene Ausnahmestunden gekannt hätte, in denen wir nach etwas Anderem als dem Bestehenden lechzen. In solchen Stunden verlangen dann Menschen, die aus Mangel an Energie und Phantasie nicht imstande sind, den Impuls der Erneuerung aus sich selbst zu ziehen, von jeder kommenden Minute, von dem Briefträger“ - die Funktion des Briefträger hat im 21. Jahrhundert das Smartphone übernommen, wer weiß, wie lange es das Gadget geben wird - „von dem Briefträger, der schellt, ihnen Neues zu bringen, und wäre es auch noch so schlimm, eine Aufregung, einen Schmerz; dann möchte das Gefühlsleben, das im Glück verstummt wie eine untätige Harfe, zum Klingen kommen, wäre auch die Hand, die daran rührt, so roh, dass es darunter zerbräche; und der Wille, der sich so mühsam das Recht errungen hat, sich ohne Behinderung seinen Begierden und seinen Leiden hinzugeben, würde dann gerne die Zügel in die Hände von gebieterischen Ereignissen legen, und wären diese noch so grausam.“ (Die Blöße aus der Schatzkammer von Proust zu zitieren, gebe ich mir gerne).


