Ich bin nicht viele
- rbr0303
- 25. Juni
- 5 Min. Lesezeit

Ich bin nicht viele
Bin ich mit meinem Leben, so wie es war und so wie es, zufrieden, bin ich damit zufrieden, wie ich bin oder stecke ich in einem Teufelskreis des Zweifelns und Haderns fest?
Ich habe gerade „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse gelesen, zum ersten Mal. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten habe ich wieder ein Werk von Hermann Hesse in die Hand genommen. Hesse, der sich mit der Buddhistischen Lehre, dem Hinduismus und anderen fernöstlichen Religionen und Philosophien auseinandergesetzt, sie wertschätzen gelernt hat, geht im Steppenwolf unter anderem der Frage nach dem Selbst nach. Wenn ich richtig verstanden habe, lehnt die Buddhistische Lehre das Konzept des Selbst und der Seele, wie sie Platon entwickelt und wie sie der christliche Glaube lehrt, ab. Der am Leben leidende Schriftsteller, der Protagonist im Steppenwolf, identifiziert zunächst zwei Wesen in sich, eine übergeordnete Persönlichkeit, eine ordnende Hand, fühlt der Protagonist Harry Haller in seiner Innenwelt nicht oder stellt sie zumindest in Frage. Da ist der dem bürgerlichen Leben zugeneigte Harry und der wilde einsame Steppenwolf.
Das Traktat „Der Steppenwolf“, der zweite Teil des innovativen Romans, ein Buch im Buch, postuliert zunächst zwei, dann zehn, hundert, tausende Persönlichkeiten, die nebeneinander auftauchen. Manche Menschen leben mit einer in der Fachwelt anerkannten Multiplen Persönlichkeitsstörung oder sind schizophren. Sie sind mal die eine, mal die andere Person und schaffen es nach meinem laienhaften Verständnis - ich bin weder Psychiater noch Psychologe, weiß nicht einmal, wer solche Diagnosen stellen darf - manchmal nicht oder nie, ein kohärentes Selbst auszubilden. Mitmenschen der Betroffenen unterhalten sich entweder mit der einen oder mit der anderen Person. Solche Krankheitsbilder würde ein Facharzt bei Harry nicht diagnostizieren, ob man denn von Krankheiten sprechen will, hängt von der jeweiligen Perspektive ab.
Im gesellschaftlichen Kontext erscheint nur Harry Haller, er ist durchaus in der Lage zu erkennen, ob der Steppenwolf oder der bürgerliche Harry die Unterhaltung mit den Mitmenschen führt, vielleicht fühlt er während einer Unterhaltung die ein oder andere Persönlichkeit die Oberhand gewinnen, das führt aber nicht dazu, dass er von der Umwelt nicht als der Schriftsteller oder als die Person, der er sich seinen Gesprächspartnern gegenüber zu erkennen gegeben hat, nicht mehr wahrgenommen wird. Mich würde es im ersten Moment verstören, wenn ich jemand, den ich kenne, anspreche und der als eine andere Person antwortet. Im käme nicht darauf, dass ich es mit einem Menschen zu tun habe, der verschiedene Persönlichkeiten beherbergt. Wobei man sich manchmal schon fragt, wer spricht gerade mit mir, so habe ich den noch nie erlebt. Es braucht aber viel, um einem Mitmenschen einen pathologischen Zustand zu unterstellen.
Kehren wir zurück zu Harry Haller. Die meisten Menschen planen Handlungen und stellen sich die Zukunft vor, meist verbunden mit einem positiven Gefühl, einer positiv bewerteten Vorstellung des Zustandes nach der Umsetzung der geplanten Handlung. Selbst, wer sich aus Frust betrinkt, hofft dabei einem schlimmeren Leid zu entkommen, vielleicht der nicht enden wollenden Gedankenschleife. Stellen wir uns die unterschiedlichen Persönlichkeiten als Agenten vor, die unabhängig voneinander die Zukunft planen und sei es auch nur, welchem Impuls als nächstem nachgegangen werden soll. Schafft es das Individuum oder das Bewusstsein oder das Unterbewusstsein nicht, einen kohärenten Zustand zu erreichen, driftet es ab in eine Gemütslage, die man vielleicht als innere Zerrissenheit des Daseins bezeichnen kann, dieser Zustand mündet im größten anzunehmenden Unfall in der Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Lebens. Harry leidet an seiner Zerrissenheit und an der Außenwelt, wie er sie in seinem Innern konstruiert. Vielleicht wäre es vermessen, ihm ein erotisches Verhältnis zu seinem Rasiermesser zu unterstellen.
Wir sind nicht allein auf der Welt. Wissen wir nicht, welche Hose, welche Bluse, welches Hemd oder welches T-shirt wir für den Besuch bei Freunden oder den Abend im Restaurant anziehen sollen, wälzen wir die Optionen in unserem Bewusstsein, wägen ab, fragen uns vielleicht, wie dieser oder jener Aufzug auf die anderen wirken wird, wie die Freundinnen, Freunde oder Fremde auf den Aufzug reagieren mögen, für einen Moment stehen wir mitten im Leben.
So sind wir in viele soziale Systeme eingebettet, wir beobachten unsere Umwelt und zunehmend, wie wir beobachtet werden. Vor einer Behördenmitarbeiterin, mit einer Polizistin oder einem Polizisten, im Gericht reden wir ganz anders über etwas Geschehenes als mit dem Anwalt, als mit Freunden oder innerhalb der Familie, mit Freunden anders als mit den Eltern oder den Kindern, sowohl inhaltlich als auch in der sprachlichen Ausgestaltung unserer Worte. Mimik und Gestik wird eine ganz andere sein, abhängig vom sozialen Umfeld. Auf der Arbeit redet man anders und über ganz andere Themen als innerhalb der Familie, innerhalb der Familie anders als mit Freunden. In den sozialen Medien geben wir uns nicht so wie gegenüber Familie und Freunden. Sind die vielen Persönlichkeiten, denen man während der Selbstschau begegnet, Reaktionen auf die unterschiedlichen sozialen Systeme, in denen man agiert, erwachsen sie endogen, aus uns selbst heraus, aus unserem Unterbewusstsein, aus unseren Vorstellungen, aus unserem Wollen, unseren Begierden, die ständig im Fluss sind? Je mehr Optionen, sich einem bieten, je mehr soziale Systeme, in denen man agiert, desto schwieriger wird die Wahl des nächsten Schrittes und die Handlungsplanung ganz allgemein. Wem es nicht gelingt, Ordnung zu schaffen in diesem Chaos oder sein Begehren ganz zu tilgen, leidet.
„Das Ich ist eine Illusion.“ „Wieviele Persönlichkeiten leben in mir?“ „Unser Bewusstsein ist eine Illusion.“ Sätze, aus dem Zusammenhang gerissen, führen uns in die Irre. Natürlich bin ich nicht viele. Es gibt immer einen Agenten im Bewusstsein, der feststellt, wer ich gerade bin. Der ist auch in Harry Haller am Werk, vielleicht nicht so präsent oder unbewusst klein gehalten. Dass ich nicht mehr das Kind bin, das in den Kindergarten und die Schule ging, spielend lernte oder auf Geheiß, dass ich nicht mehr der bin, der ich gestern war, sind Binsenweisheiten. Mag das Leben eine Verkettung von Zufällen sein oder sich der aktuellste Zustand aus allen vorherigen ergeben, mag sich mein Körper ständig verändern und bis auf wenige Ausnahmen alle drei Jahre alle Zellen in meinem Körper erneuert haben, mag ich die Erinnerungen ständig umschreiben, damit das Narrativ der Zukunft Sinn verleiht, ich trage die Vergangenheit meines Körpers in mir, schleppe sie mit mir herum, trage die Vergangenheit der Ahnen in mir, sogar deren Geschichten, sofern sie mir bekannt sind und das, solange ich lebe. Vielleicht bestehen sie nur zum kleinsten Teil aus Worten, aber ich beschäftige mich und spiele eben gerne damit, nicht nur, wenn ich in einer Sackgasse stecke.
Ich sitze gerne am Rhein und schaue aufs Wasser, schaue zu, wie es fließt, es bringt die Vergangenheit mit und ich kann mir Geschichten ausdenken, was es oder was ein Ast, der darauf treibt, auf der bisherigen Reise erlebt hat, wo ein Wassertropfen in den Rhein gefallen ist, ob in den Alpen, in einen Nebenfluss der Vogesen oder des Schwarzwalds, im Rheintal oder sonst wo, ich kann mir seine Zukunft ausmalen auf dem Weg in die Nordsee, ob er auf seinem Weg verdunstet, ganz oder teilweise. Da mache ich es mir wahrscheinlich zu einfach. Aber daran denke ich sehr oft, wenn ich, das Kaltgetränk in der Hand, das in der Abenddämmerung glitzernde, dahin strömende Wasser betrachte. Kein neue Erkenntnis. Naiv. Aber es beruhigt mich, mir diese immer mal wieder vor Augen zu führen, ohne über eine Theorie ihres Zustandekommens zu sinnieren.


