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Gedanken zu Bel-Ami von Guy de Maupassant

  • rbr0303
  • 7. März
  • 3 Min. Lesezeit

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Gedanken zu Bel-Ami von Guy de Maupassant


So schön kann das Leben gar nicht sein, wie der grinst, dachte ich - mit Einkäufen und mentalen Gewichten beschwert - auf dem Gehweg, kurz bevor ich zu Hause ankam. Es war der erste warme Tag des Jahres, die Abendsonne schien. Der Einfall flutete mein Bewusstsein, während der Radfahrer - er dürfte etwas älter gewesen sein als ich - auf dem E-Bike an mir vorbei fuhr. War der Gedanke allein mein Werk? Ich reagierte auf unmittelbar Erlebtes in der realen Welt und nicht auf die Beobachtung eines Beobachters, auf eine Fernsehnachricht, einen Zeitungsbericht oder ein YouTube Video. Ich reagierte in einer Sprache, die ich in sozialer Interaktion erworben habe. Ob der in Gedanken formulierte Satz meine Empfindungen im Augenblick des Erlebens richtig wiedergibt, vermag ich aus der Ferne nicht zu beurteilen. Man ist nie allein mit seinen in Sätzen formulierten Gedanken, selbst wenn man sie in sich einschließt. Sprache macht nur Sinn in Gesellschaft. Mit Sprache Authentizität einzufangen und weiterzutragen, ist ein schwieriges Unterfangen, selbst für die größten Dichter.


Gesprochene Sprache und Bilder in Filmen, Fernsehen und sozialen Medien wirken mächtiger auf uns, als das geschrieben Wort. Das geschriebene Wort kann viel einfacher seziert werden, es lässt mehr Freiräume. Die Analyse eines Videos überlassen wir meist Expertinnen und Experten, es erfordert Technik, über die zumindest ich nicht verfüge. Wir beobachten die Expertinnen und Experten bei der Analyse. Wer registriert nicht die Zahl der Aufrufe, der Likes eines Beitrags, bevor er ihn aufruft. Nach der Anzahl der Klicks bemisst sich die Relevanz, der Wert und nicht selten die Güte der Information. Wenn ich der einzige bin, den die Qualität eines Beitrags begeistert, ist das schön für mich, ernährt aber nicht die Influencerin, wird sie nicht dazu bewegen, weiterzumachen. Aber das ist kein neues Phänomen. Balzac beschreibt es in verlorene Illusionen, Maupassant spielt mit den Mechanismen der Massenmedien in Bel-Ami, indem er den Protagonisten George damit zocken lässt.


Der erklimmt die soziale Stufenleiter gerade nicht aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten, sondern weil ihn andere für talentiert und fähig halten und vor allem, weil er auf einflussreiche Frauen unwiderstehlich zu wirken scheint. Er schläft sich hoch, macht sich zum eigenen Projekt, schreibt seine Rollen selbst und verfolgt dabei skrupellos seine Ziele. „All the world’s a stage, and all the men and women merely players.“ (Shakespeare).


Der Roman kommt auf den ersten Blick harmlos daher, ist - fast will ich schreiben - makellos, hat es nach meinem Dafürhalten aber faustdick hinter den Ohren, bedient so viele Ebenen und ist viel komplexer als es beim ersten Lesen den Anschein hatte. Maupassant lässt uns teilhaben an Beobachtungen erster, zweiter und höherer Ordnung und zeigt, wie Adel, Finanzadel, Politik und der oder die Einzelne im Wissen um deren Wirkungen die eigenen Interessen durchsetzen.


Maupassant scheint sich einiger Wirkmechanismen, die er in Bel-Ami offenlegt, nicht bewusst gewesen zu sein, obwohl das Werk einen durchdachten, durchkomponierten Eindruck hinterlässt. Ist der Geist erst aus der Falsche, lässt er sich nicht mehr kontrollieren. Die Spekulation des Emittenten mag aufgehen oder auch nicht. In der Reclam Ausgabe, die ich gelesen habe, ist im Nachwort ein offener Brief auf negative Kritiken seines Romans zu lesen, durch die er sich angegriffen fühlte. Er versucht sich darin zu rechtfertigen und die Rezeption seines Werkes ins, aus seiner Sicht, rechte Licht zu rücken. Er will nicht missverstanden werden, die Deutungshoheit über das Werk behaupten. Ich habe die Kritiken nicht gelesen. Maupassant sorgt sich, man könne ihm vorwerfen, lebende Personen des Zeitungswesens und die Presse insgesamt bloßstellen zu wollen, will nicht als Nestbeschmutzer in die  Medien- und Literaturgeschichte eingehen. Vielleicht sorgte er sich um die Auflage seines Bel-Ami, die Anzahl der verkauften Bücher, die Anzahl der Klicks in den sozialen Medien. Medienexpertinnen hätten ihm von dem offenen Brief abgeraten.


Die Kleingeistigkeit sei Maupassant in Anbetracht der Güte des Werkes verziehen. Ihm gelingt es, authentische Momente in Georges Leben zu vermitteln. Wir beobachten sie, als betrachteten wir, wie die Sonne an einem warmen Sommerabend im Meer versinkt oder ein vorbei fahrender Radfahrer um die Wette strahlt. Das kommt mir im ersten Moment so vor. Ich muss mir den Unterschied der Betrachtungsgegenstände bewusst machen, um ihn zu erkennen, was mir beim Lesen viel besser gelingt als bei Bewegtbildern, oder - in anderen Worten - mir gelingt die Beobachtung meiner Beobachtung viel besser beim Akt des Lesens. Aber so wie die Beobachtung des Gesichts eines vorbei fahrenden Radfahrers mein Bewusstsein flutet, prägt auch das, was ich lese und im Fernsehen und in sozialen Medien konsumiere, mein Weltbild. Die Frage, die sich die eitlen Georges dieser Welt - vermutlich aus Zeitnot - nie oder viel zu spät im Leben stellen, bleibt: Was sind denn jetzt meine Gedanken?

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