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Erlebnisse beim Tee trinken

  • rbr0303
  • 23. Apr.
  • 4 Min. Lesezeit

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Erlebnisse beim Tee trinken


Bevor ich das Buch in die Hand nahm, erwartete ich, dass ich mindestens 500 Seiten würde lesen müssen, dass ich wahrscheinlich zufällig darauf stoßen würde, ehe mich die legendäre Stelle erleuchten würde. Dann hörte ich, ich könne mich bereits am Anfang des Werkes darauf freuen. So las ich, nicht daran denkend und lauschte dem Fluß der Worte in meinem Bewusstsein und erlebte, wie er sich, währenddessen ich still genoss, in Begebenheiten, Stimmungen, Empfindungen und Überlegungen verwandelte - ich bin ein sehr langsamer Leser -, bis mich das in einem Löffel Tee aufgelöste Stückchen Madeleine, das der Ich-Erzähler an seine Lippen führte, auf Seite 66 beinahe überraschte und meine Aufmerksamkeit auf eine noch erhabenere Stufe hob.


Als ich mich Tage später an den Tisch setzte, um dort zu lesen und aus dem Fenster schaute, fiel mir auf, dass der Himmel ganz schwarz war. Es grummelte und donnerte leise. Kein Wind wehte, man konnte die Spannung in der Luft fühlen. Ein Bedauern regte sich, dass ich keinen Spaziergang im nahen Wald gemacht hatte. Ein Gewitter hatte ich nicht erwartet. Der Wald müsste nach Bärlauch, der noch nicht in der Blüte stand, nach Waldboden, den gerade geschlüpften Blättern duften. Innerhalb weniger Minuten prasselten dicke Regentropfen gegen die Fensterscheiben, Blitze zuckten vom Himmel auf die Erde nieder, Donner grollte. Der Abstand zwischen Blitz und Donner ließ wenig Beklemmung aufkommen. Ich überlegte, zu welchem Buch ich greifen sollte. Vielleicht erstmal einen Nachmittagstee zubereiten.


Ich bin kein Teetrinker, nicht mehr. Seit ich England verlasse habe, trinke ich fast nur noch Kaffee, in allen Variationen und selten am Nachmittag. Ich wusste von den Teebeuteln in der Küche, Englich Breakfast Tea, ich zog einen Teebeutel aus der Kartonverpackung und roch daran. Nichts, nicht der leiseste Duft strömte in meine zugegebenermaßen nicht allzu empfindliche Nase, ich schaute auf der Verpackung und suchte nach dem Haltbarkeitsdatum, hatte meine Brille nicht dabei, sodass ich nichts lesen konnte, was bestimmt besser war. Leider hatte ich noch nie das Vergnügen, einer japanischen Teezeremonie beizuwohnen und kenne das Phänomen nur aus dem Kino oder aus Dokumentationen. Sicher gibt es unzählige Videos im Internet, die meinen Puls auf einen Schlag pro Minute senken würden. Überspringen wir deswegen die weiteren Details und stellen uns vor, wie ich aus dem Fenster schaue und die Tasse Tee neben mir steht.


Ich führte die Tasse Tee, mit einem Tropfen Milch darin aufgelöst, an meine Lippen und konnte das Wunder kaum fassen. Es roch, vielleicht etwas unbestimmt, aber immerhin roch es nach Tee. Auf einem Teller lagen zwei Stückchen Kuchen, was die Vorfreude auf den Genuss noch steigerte. Wie ich den Schluck Tee in meinem Gaumen wälzte, passierte erst einmal nichts weiter, als dass ich den dann doch etwas faden Tee schmeckte. Erst als ich die Tasse wieder abgesetzt hatte, dachte ich daran, wie ich Samstag  morgens oder Samstag nachmittags ruhig und gelassen in England im Shopping Center in L. saß und auf den bestellten Tee, das warme Scone, die Butter und die Marmelade wartete.


Auf meinem Tisch lag „Unterwegs zu Swann“, „Das Schloss“ und etwas weiter entfernt „Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität“ von Niklas Luhmann, Proust und Kafka lese ich gerade parallel, Luhmann musste ich letztes Jahr zurückstellen, weil ich es nicht verdauen konnte. Aber jetzt bin ich ausgeschlafen und kann es kaum erwarten, bis ich es wieder in die Hand nehmen kann. Wenn sich nicht dauernd die anderen Lesevorhaben in den Vordergrund schieben würden! Ich sah die jungen Bedienungen in ihren braven Kostümchen, die Tea und Scone mit geschultem Lächeln auf den Tisch stellten, manchmal abends im Pub oder im Club in völlig anderer Aufmachung, der Natur freien Lauf lassend, mit jedem Bier noch anziehender werdend für die männlichen Besucher. Der Ernst des Lebens spielte sich auf einem anderen Planeten, weit weg von der Lebenswirklichkeit ab, die Kafka so treffend beschreibt, die aber fast alle von uns irgendwann einholt, so auch mich. Ich entschied mich für Kafka, nachdem ich den Tee getrunken hatte. Das Gewitter war weiter gezogen. Wenig später schien die Sonne. Nichts anderes hatte ich erwartet.


Im Shopping Center trank ich abwechselnd Earl Grey, Assam oder Darjeeling. Ich suchte einen Lebesmittelladen auf und kaufte einen teuren Darjeeling, in einem anderen Geschäft eine nicht ganz so teure Teekanne mit Sieb. Wenn ich jetzt noch wüsste, mit welcher Temperatur man das heiße Wasser auf die Teeblätter gießen sollte, wenn die Hälfte der Teeblätter nicht in die Spüle gefallen wären, während ich versuchte, den Löffel mit den Teeblättern in das Sieb zu kippen, ich nicht ständig von der Küche ins Wohnzimmer und zurück hätte gehen müssen, weil ich etwas vergessen hatte, die Milch, den Löffel, die Tasse, die Teekanne -die Aktion dürfte so lange gedauert haben wie eine klassische, japanische Teezeremonie - vielleicht hätte ich dann den von Proust so fein, ästhetisch und anregend beschriebenen Effekt erlebt.


Ich befürchte beim Teetrinken wird sich dieser für mich nie einstellen, die Erinnerung an Seite 66 wird sich immer vor jede andere stellen und sei sie noch so süß, es sei denn, eines Tages erscheint unwillkürlich das Erleben beim Lesen der berühmten Zeilen vor meinem geistigen Auge. Es muss ja nicht immer Tee sein, der unsere Gedanken anregt, es kann ein Geräusch, ein Ton, Worte, ein Musikstück sein, der unser Herz einschnürt und es rasen lässt, während gleichzeitig das erlebte Horroszenario Gestalt annimmt, hoffentlich nur einmal, denn beim nächsten Mal naht es wie das Gewitter, wenn die Melodie erklingt und zieht hoffentlich schnell vorüber. Und deshalb ist es unwahrscheinlich, dass der Tee im Gaumen das Empfinden beim Lesen der Madeleine Szene unwillkürlich aufleben lässt.

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