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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke

  • rbr0303
  • 19. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit
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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - Von Rainer Maria Rilke


Anfangs tat ich mich beim Lesen der Aufzeichnungen schwer. Der Text lebt nicht von einer durchgehenden Handlung, die mich getragen hätte. Die 190 Seiten lasen sich wie 1.900. Der erste Schluck Bier schmeckt bitter, man setzt die Flasche ab und fragt sich, weshalb das Getränk in Deutschland und in vielen anderen Ländern so beliebt ist. Die Bitterkeit, die Überreizung der vielen, unterschiedlichen Geschmacksknopsen im Gaumen, genauer, auf der Zunge, hemmt den unmittelbaren Genuss beim ersten Schluck.


Malte beschreibt Erlebnisse, mehr noch Beobachtungen in Paris, Kindheitserinnerungen, Beziehungsfragmente zu Abelone, der Schwester seiner Mutter, stellt Überlegungen über Gestalten der Geschichte an, die nur Überreste des Bildungsbürgertums kennen; zu denen darf ich mich leider nicht zählen.


Wer sich am Lesen und Nachsinnen von Rilkes Gedichten erfreut, wird Gefallen an dem Prosatext finden. Wir lesen nicht Maltes Tagebuch, sondern das, was ihn beschäftigt; als folgten wir einer Gedankenwelt, die zwar nicht die unsere ist, die sich aber in manchem von uns auf ähnliche Weise abspielt. Rilke quält uns nicht mit dem sinnlosen Geplapper im Hirn, das erspart er uns, sondern breitet nur die Beobachtungen, Gedanken und Geschichten vor uns aus, die ihm wichtig erscheinen. Das Leben folgt keinem Plot, Narrative erfinden wir, um das Unzusammenhängende in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen. Geschichten in Maltes Aufzeichnungen sind kurz und zum Teil großartig gestaltet.


Als der nahezu mittellose, junge Dichter Malte aus adligem Haus nach Paris kommt, kreisen seine Gedanken um das, was er sieht, hört, riecht und liest. Damit scheint er für seine Verhältnisse schon einen großen Schritt in die Welt getan zu haben. Er kommt kaum mit anderen in Kontakt, bleibt ein Fremder in der Gesellschaft; er nimmt Sinneseindrücke in sich auf, beobachtet, was im Innern daraus entsteht und schreibt es auf, als Kommunikationsangebot an uns, die Leserin, den Leser. So stellt er Kontakt mit der Außenwelt her; die Fiktion entwickelt sich. Maltes Innenwelt wird uns zum Außen, bewegt uns oder auch nicht, beim zweiten, beim dritten Mal Lesen, auf dass wir unsere eigenen Gedanken und Geschichten entstehen lassen, die es vielleicht aufzuschreiben lohnte, vielleicht nicht für andere, aber für uns.


Es gibt viele Perlen in den Aufzeichnungen zu entdecken; über viele las ich erst arglos hinweg. Man kann das Büchlein irgendwo aufschlagen, einen Absatz herausgreifen, langsam lesen und findet sie. Malte leidet für uns an sich und der Welt. Gehen wir nicht auch durch das Dasein, erleben einen Gedanken, eine Geschichte nach der anderen und suchen wie Malte den Sinn des Lebens, des Sterbens, der Krankheit, das Rätsel der Gefühle, der Liebe zu ergründen? Malte hat Angst, geliebt zu werden. „Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist Vergehen, Lieben ist dauern.“ Vielleicht hat er Angst, gesehen zu werden, wie er ist, wo er doch weiß, dass das unmöglich ist oder er befürchtet, missverstanden zu werden.


Maltes Aufzeichnungen enden mit einer Reflexion über das Gleichnis des verlorenen Sohnes. „Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts überspringen, denn er zweifelte nicht, dass in alledem seine Liebe war und zunahm“. In der Erforschung seines Binnenlebens sucht er die Kindheit auf, das Haus, in dem er groß geworden ist, fällt auf die Knie und beschwört die im Haus Gebliebenen, ihn nicht zu lieben. Sie missdeuten die Gebärde und verzeihen ihm, obwohl es ihm darum nicht ging. Er erkannte, dass sie nicht ihn liebten, sondern den verlorenen Sohn, den sie zu kennen und erkannt zu haben glaubten. Ihre Liebe betraf ihn nicht. „Was wussten sie, wer er war.“ Nur ein übergeordnetes Wesen könne ihn lieben. „Der aber wollte noch nicht.


Ende der Aufzeichnungen“


Malte baut keine stabilen Beziehungen zu Mitmenschen auf; das ist kaum möglich; so innerlich aufgerüstet, wie er in die Welt zieht, hält nicht einmal Abelone den Ansprüchen stand. Er sehnt sich nach menschlicher Verbundenheit und schreckt gleichzeitig davor zurück.


Die Aufzeichnungen enden mit einer Schaffenskrise von Rilke. Die Generation Beziehungsunfähig ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Niemand schreibt so schön darüber wie Rilke. Aber das ist nur ein Thema von vielen im Text. Ob das jetzt Lust aufs Lesen oder Wiederlesen weckt?


„Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr ändern werden, einfach festzustellen, ohne die Tatsachen zu bedauern oder auch nur zu beurteilen. So ist mir klar geworden, … .“


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