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Das Glück der leichten Kost

  • rbr0303
  • 19. Apr.
  • 8 Min. Lesezeit

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Das Glück der leichten Kost


Rien n‘ est plus beau qu‘ un corps nu.

Le plus beau vêtement qui puisse habiller une femme ce sont les bras de l‘ homme qu‘ elle aime.

Mais pour celles qui n‘ ont pas eu la chance de trouver ce bonheur Je suis là. (Yves Saint Laurent)


Wenn mich junge Menschen sehen, erweckt die Wirkung der Schwerkraft auf meine Gesichtszüge, auf das Bindegewebe in meinem Gesicht vielleicht den Eindruck, ich sei missmutig, schlecht gelaunt, unglücklich. Ich habe schon über ein Facelifting nachgedacht, um den Anblick im öffentlichen Raum, in der Straßenbahn, im Flughafen, im Flugzeug, auf Plätzen, in Museen, Theatern, Kaufhäusern und Gastronomiebetrieben für meine Mitmenschen noch angenehmer zu gestalten. Doch wer will schon jemandem mit Wäscheklammern am Ohr sehen, Büroklammern wären vielleicht diskreter. Wir überschätzen unsere Wirkung auf andere maßlos. Wie ich, gehen die meisten unbemerkt durch die Straßen, keine Sau interessiert sich für uns, wie es in dem Lied (frei nach Max Raabe) so schön heißt. Gut, bis Mitte zwanzig muss man irgendwie durchhalten, manche bis Mitte vierzig, ohne an der eigenen Attraktivität zu verzweifeln, die sich nicht aufs Äußere beschränkt. Aber gerade den jungen Menschen mag man empfehlen, sich doch besser umzuschauen, bevor sie in Panik geraten und seelische Störungen entwickeln.


Das Bindegewebe verrät also wenig über den Gemütszustand eines Menschen, wobei der Zustand des Bindegewebes sehr wohl das Seelenleben beeinflussen kann. Die wenigsten greifen zu teueren Kosmetikprodukten oder legen sich unters Messer einer Schönheitschirurgin oder eines Schönheitschirurgen, weil jemand aus ihrem nahen oder weiteren Bekanntenkreis gesagt hätte, du bist aber runzlig geworden, deine Tränensäcke reichen bis zur Kinnlade, dein Gesicht sieht aus wie ein frisch umgepflügtes Feld oder wenn ich deine Falten zählen wollte, wäre ich morgen noch nicht fertig. Mehr als dezent geäußerte Andeutungen wird niemand vernehmen, meist geschieht das nicht mit Worten, da hätte man gerne, dass die Grenzen der Sprache, die Grenzen der Welt bedeuteten, man liest das Verhalten, Gestik und Mimik des Gegenüber und zieht Schlüsse. Das im Post geschriebene, als Emoji, sonstiges Zeichen, im Video oder Reel geäußerte Urteil der Beobachtung der Beobachtenden dürfte in der westlichen Hemisphäre viel entscheidender für das Seelenleben sein als die Reaktion der Nahestehenden.


Heute sah ich einen jungen Mann mit nacktem Oberkörper, braun gebrannt, durch die Stadt flanieren - es war gar nicht so warm - ein Adonis, ich sah ihn nicht das erste Mal in dieser Verkleidung, ich mochte nicht mit ihm tauschen. Irgendetwas stimmt mit dem Kerl nicht, dachte ich, und das nicht aus Neid. Zweifellos sah er gesund, stark und gut aus und offensichtlich tat er einiges dafür, vielleicht hatte er viele Freunde und Freundinnen, ich glaube nicht, dass er reich war, er trug immer dieselbe Hose und zeigte sich in dieser Aufmachung öffentlich über mehrere Tage. Ob er diese äußeren Güter für sich richtig gewichtet? Sein Auftreten weckte Zweifel. Das persönliche Wohlbefinden hängt maßgeblich von äußeren Einflüssen ab. Sogar auf Fuerteventura kann der Regen auf uns nieder prasseln. Außerdem stehen wir in ständiger Wechselwirkung mit unseren Mitmenschen, klassische und soziale Medien wirken auf uns ein. Wir reagieren auf die Beobachtung unserer Umwelt mit unseren eigenen Operationen oder unser Bewusstsein tut es, unser Gehirn verändert sich ständig und mit unserem Verhalten verändern wir die Welt, verändern die Umwelt für die Mitmenschen, manche signifikant, andere weniger.


Auf innere seelische Güter wie Klugheit, Mäßigung, Mut, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Erkenntnis, Kontemplationsfähigkeit zu schließen, zu beurteilen ob der junge Mann in der Lage wäre, Schönheit zu erkennen oder ob er einen reichhaltigen Wissensschatz sein eigen nennen kann, wäre vermessen. Wie stellt sich das richtige Maß an Klugheit, Mut, Wissen, Kontemplation, Erkenntnis in der jeweiligen Lebensphase ein? Was muss man dafür tun? Alle, die gerne schlemmen und gutes Essen und Trinken genießen, kennen das Gefühl am großen Buffet, eigentlich satt zu sein, aber trotzdem noch diese und jene Köstlichkeit zu probieren, bis man sich kaum noch bewegen kann. Es kann Tage und Wochen dauern, bis wir uns wieder an leichte Kost gewöhnt haben. Viele Körper verzweifeln an der Güterabwägung zwischen der Perlenschnur des unmittelbaren Genusses und dem langfristigen Wohlgefühl.


Streben wir mehr denn je den Zustand des Glücks an, anstatt das Seelenheil wie in der Hochzeit des Christentums im Jenseits zu suchen? Auf unglückliche Unwägbarkeiten des Lebens verzichten wir gerne, was mir heute nur bedingt gelungen ist. Ich blieb beim Laufen an einem verwitterten Pflasterstein hängen, stolperte und fiel hin. Ich darf mich glücklich schätzen, dass ich keine ernsthaften Verletzungen davon trug, unglücklich, weil ich zahlreiche Schürfwunden erlitt und mir die linke Hand verstauchte. Ich könnte mir auf die Schulter klopfen, dass ich meinen Körper mit Gymnastik und Kräftigungsübungen stähle, auf der anderen Seite verzeihe ich mir nur widerwillig an dieser Stelle, deren Gefahren ich kannte und vor denen mich die innere Stimme bei jedem Lauf warnte, nicht vorsichtig gewesen zu sein. Wie endlich das bloße Aufhören der Seelenfunktionen den Schlaf herbeiführt, so gibt es auch während des Wachens (das dann nur ein halbes Wachen ist) sehr häufig eine Art geringen Entschlummerns der Seele, gedankenlosen Hindämmerns (aus L‘homme machine von Julien Offray de La Mettrie) und plötzlich liegt man ausgestreckt auf der Erde, blutet und die Menschen um einen herum bieten ihre Hilfe an, wenn man dieses Glück hat.


Strebe ich den Zustand des Glücks oder der inneren Zufriedenheit an? Ich griff vor einigen Tagen zu dieser Zeitschrift, die ich in meinem letzten Essay erwähnt hatte und beschäftigte mich einen ganzen Tage mit der Philosophiegeschichte des Glücks. Ich gebe zu, der Aufwand meiner Studien zum Thema Glück kommt armselig daher. Ich habe ein bisschen Heraklit gelesen, aber nicht die Nikomachische Ethik, nicht Diogenes, der Philosoph im Fass - immerhin das viel mir spontan ein, habe in die stoische Lehre rein geschnuppert, die Kritik Kants, Schopenhauers und Nietzsches am Zielbild des Glücksstrebens nicht studiert und auch das Buch von Ken Mogi über Ikigai nicht durch gearbeitet. Wer das Lesen einiger Wikipedia- und Zeitschriftenartikel zählen lassen will, mag mich für einen Experten halten.


Die biologischen Grundlagen des Glücks wären ein eigenes Explorationsfeld. Glück als biochemischen Prozess zu betrachten, hört sich für naturwissenschaftlich interessierte Menschen verlockend an. Mehr als vom Rande habe ich bisher nicht darauf geschaut. Krankheit oder auch nur Schürfwunden, die man sich beim Laufen zuzieht, indem man stolpert und hinfällt, können die Tür zum Glück für eine gewisse Zeit schließen. In diesen Momenten scheint gerade kein Dopamin oder Serotonin in den Synapsen ausgeschüttet zu werden. Unglück mit chemischen Mitteln zu kurieren war zu Zeiten von Aldous Huxley noch Science Fiction. Die Glücksdroge in „Brave New World“ jedem zu verabreichen und die Konsequenzen in einem Roman durchzuspielen war und ist ein lohnenswertes Leseerlebnis. In der Vergangenheit, auch heute noch, brachten hauptsächlich Kartelle Drogen unter die Leute, Opioide, anfangs meist als Schmerzmittel verabreicht, sollen in den USA allein in 2022 über 100.000 Menschenleben gefordert, Pharmafirmen dabei Milliarden verdient haben. Ein materialistischer Ansatz zur Lösung des Faltenproblems wäre das Nervengift Botox als Alternative zur Operation oder zur Wäscheklammer. Vielleicht ist man nach der Spritze glücklicher, das Lachen schien mit dem Einsetzen der Wirkung schwer zu fallen, wie man vor einigen Jahren bei Prominenten beobachten konnte. Das Problem ist inzwischen vielleicht gelöst. Ich habe die Entwicklung der Nervengifte im kosmetischen Bereich nicht weiter verfolgt.


Kann man gesellschaftliches Glück, wie es der Glücksatlas misst, aus den biochemischen Zuständen in den Gehirnen der Menschen innerhalb einer Nation errechnen?  Bisher geschieht das meines Wissens im Rahmen gesellschaftspsychologischer Studien über Fragebögen, die hoffentlich in repräsentativen Stichproben erhoben werden. Ich stelle mir das Unterfangen sehr schwierig vor. In einer repräsentativen Stichprobe die Neurotransmitter zu messen und über eine ausreichend große Population zu erheben, ist in meinen Augen aussichtslos. Selbst meine Werte dürften im Tagesverlauf signifikant schwanken, obwohl ich mich zur Zeit ausgeglichen fühle. Soma wäre sicher das Mittel der Wahl einer autoritären Regierung, wenn das Land in der Glücksrangliste zu weit abgerutscht ist. Aldous Huxley schreibt ihm keine Nebenwirkungen wie dem Alkohol oder den anderen bekannten Drogen zu.


Die westlichen Gesellschaften sind heutzutage derart fragmentiert, selbst Familienstrukturen lösen sich auf, dass sich im sozialen Umfeld deutlich weniger Glücksimpulse oder Sinn stiftende Betätigungsfelder aufzutun scheinen als früher, wobei bei dieser These Zweifel angebracht sind. Hatte Nächstenliebe einen höheren Stellenwert, als man Solidarität noch nicht einklagen konnte und seit der individuelle Steuersatz gesetzlich geregelt ist? Wir reden nicht von tugendhaftem Verhalten, wenn jemand die Steuern ordnungsgemäß abführt und die Sozialbeiträge fristgerecht zahlt. Die positive Stimulierung der Gemütslage setzt in der arbeitenden Bevölkerung darüber hinaus gesellschaftliches Engagement voraus. Die Wertigkeit des Engagements für die Gesellschaft hängt zu einem davon ab, was man während und nach der Aktivität fühlt und zum anderen von der Bewertung der Aktivität in welchem gesellschaftlichen Kontext auch immer sowie von der eigenen Beobachtung dieser gesellschaftlichen Bewertung.


Julien Offray de La Mettrie schreibt in seinem Werk „L‘Homme Maschine“ (Der Mensch eine Maschine) aus dem Jahr 1748, er sei unter anderem durch seine Erfahrungen als Arzt und Patient und seine Wahrnehmungen zu der Erkenntnis gekommen, dass der Mensch wie das Tier eine Maschine sei. Der Mensch funktioniere wie eine Maschine, wir würden heute eher von einem biologischen, sich selbst organisierenden und sich reproduzierenden System sprechen, sobald sich die erste Zelle zu teilen anfängt und sich das genetische Programm entfaltet. Das Geistige, das Seelische sei auf inneren Zustände im Gehirn zurückzuführen. Er führt dazu einige Beispiele als Beweisstücke, eher wie vor Gericht, auf. Durch Krankheit körperlich geschwächt, wäre er nicht mehr zu denken in der Lage gewesen. Als Arzt verstand er sich als Naturwissenschaftler und Heiler qualifizierter über Philosophie zu reden und zu schreiben als die Größen seiner Zeit. Aus seiner materialistischen Weltanschauung leitet er zwei Wege zum Glück ab: Das Streben nach körperlichen Vergnügungen und Vergnügungen der Künste und Wissenschaften („Ja das Studium ist eine Freude für jedes Alter, jeden Ort, jede Jahreszeit, jeden Moment.“ … „Gibt es im Alter, jener eisigen Zeit, da man andere Vergnügen weder zu bereiten noch zu genießen imstande ist, eine bessere Genußquelle als Lesen und Nachdenken?“) Es ist nicht das größte Werk der Philosophiegeschichte, aber de La Mettries Vermutungen haben in Zeiten, in denen die positiven Wissenschaften und die Tech-Branche nach den Sternen greifen, wieder Konjunktur. „Ein jeder hat die Fackel, die ihn erleuchtet. Aber wenn der Geist das Glück hat, die Regeln, die ihn leiten, zu finden, so ist das ein Triumph, dessen beglückende Erfahrung sie täglich machen, welch Triumph aber gar, wenn das eintreffende Ereignis die Kühnheit rechtfertigt!“ …


„Wir wollen nicht behaupten, daß jede Maschine oder jedes Tier völlig untergeht‚ noch auch, daß sie nach dem Tode eine andre Form annehmen, denn davon wissen wir ganz und gar nichts. Wenn man aber versichert, eine unsterbliche Maschine sei ein Hirngespinst oder sei nur eine Schöpfung unseres Geistes, so sind das ebenso sinnlose Einwendungen, als wenn eine Raupe, welche die abgestreifte Haut anderer Raupen sieht, das Los ihre Gattung bitter beklagen würde, weil ihr diese dem Untergange verfallen scheint. Die Seele dieser Insekten (denn jedes Tier hat die seinige) ist zu beschränkt, als daß sie die Verwandlungen der Natur begreifen könnte. Niemals hätte auch nur eines der schlausten unter ihnen sich vorstellen können, daß es ein Schmetterling werden solle. Ebenso geht es uns. Was wissen wir von unserer Bestimmung mehr wie von unserem Ursprung? Unterwerfen wir uns also einer ewigen Unkenntnis, von der unser Glück abhängig ist.“ (de La Mettrie). Im Jenseits sieht de La Mettrie kein Glücksversprechen. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Wittgenstein)


Ich bin wieder zu Hause, die Wunden heilen, die Falten bleiben, ich lese und lasse die Gedanken schweifen. Als soziale Tiere wird sich in uns ohne die Wahrnehmung, dass uns andere bewundern, wertschätzen, mögen, lieben, wie auch immer uns dies unsere Mitmenschen vermitteln, die Empfindung innerer Zufriedenheit nicht einstellen und mögen wir noch so schön, reich, selbstlos, tugendhaft, klug sein, unseren Mitmenschen noch so großartige Gemälde, Fotographien, Installationen, Skulpturen, Filme, Reels, Produkte, Dienstleistungen oder Akte der Nächstenliebe schenken. Wir lechzen nach dieser Wahrnehmung, selbst wenn wir nur da sind. Manche machen es uns aber auch schwer, andere ganz leicht.


Die schönste Kleidung, die eine Frau tragen kann, sind die Arme des Mannes/Menschen, den sie liebt. Für alle, die nicht das Glück hatten, diese Freude zu finden, ich bin da.

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