Carpe Diem
- rbr0303
- 27. Mai
- 2 Min. Lesezeit

Carpe Diem
Lebe und genieße jeden Tag, als sei es dein letzter, begegnet uns seit der Antike und besonders in der heutigen Zeit in vielen Ratgebern, Podcasts, Videos auf den unterschiedlichsten Plattformen und ebenso so lange, wie das Lebensmotto gepriesen wird, streiten und diskutieren Philosophen, Dichter, Kleriker und Gemeine darüber, darüber, was überhaupt gemeint ist oder scherzen über den gut gemeinten Ratschlag. Wie man es mit Horaz und Epikur auch halten mag, fast jeder hat sich mindestens einmal im Leben damit beschäftigt, der eine lebt gedankenlos danach, der andere grämt sich vor Sorgen, leidet, ist so beschäftigt, arm oder verwittert, dass die Blume in unerreichbarer Ferne blüht und kein Hauch ihres Parfüms die Nase kitzelt.
Sei auf der Hut, wenn dir Mephisto die Worte einflößt. Die existenzielle Bedrohung und das Leid wartet hinter der nächsten Ecke. Besteht dein Kind den Marshmallow-Test nicht, wird es später weniger verdienen, wird sich eher von Fast Food ernähren, mehr Alkohol konsumieren und eher Beziehungsprobleme entwickeln als Kinder, die den Worten der Erwachsenen glauben, warten und auf den zweiten Marshmallow spekulieren. Der Erfolg gibt langfristig orientierten Investoren recht. Doch wer sagt, dass die nicht in der Lage wären, den Moment zu genießen. Carpe diem, quam minimum credula postero. Was hat Horaz damit gemeint? Was bedeutet der Satz für mich?
„Sie sähen nicht, sie ernten nicht und der himmlische Vater ernährt sie doch,“ heißt es in der Bibel. Und doch beobachten wir einen dramatischen Rückgang der Singvögel, weil ihnen Lebensräume und Nahrung fehlen. Werden wir uns bald im Garten nur noch den Geräuschen der Rasenmäher und vorbei fahrenden Autos erfreuen, im Frühjahr im Wald die totale Stille genießen können? Das Glas Wein am Abend lässt die Leber aufblühen, das leckere Stück Kuchen, das so verführerisch duftet und meinen Gaumen liebkost, versorgt mich mit Zucker und Fett für die nächsten drei Tage. Vergeude ich Zeit und Ressourcen, wenn ich den Worten von Tolstoi, Proust, Woolfe oder Mann lausche, während ich diese Zeilen schreibe oder nach Paris reise und mich im Musée Rodin in die dort ausgestellten Skulpturen und Gemälde versenke? Wem hilft es, wenn ich auf den Berg steige und die Aussicht auf die umliegenden Täler bewundere?
Die schönen, vielleicht seltenen, Augenblicke im Leben zu genießen, ist eine Kunst, eine Gabe, mit der nicht jeder gesegnet ist. Die Sensen der sieben Todsünden schwingen dabei fröhlich über unseren Köpfen.


