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Brot und Spiele von Siegfried Lenz

  • rbr0303
  • 22. Juni
  • 5 Min. Lesezeit
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Brot und Spiele von Siegfried Lenz - ein Sportroman


Wie es sich anfühlt auf einem Podest zu stehen, erhaben, über dem Zweit- und dem Drittplatzierten, weiß ich nicht. Ich habe nie ein Rennen gewonnen, bin auch nie bei einem Wettkampf gestartet, die Bundesjugendspiele will ich nicht aufzählen, aber selbst bei diesen Rennen kann ich mich nicht erinnern, einmal als erster über die Ziellinie gelaufen zu sein.

Der Roman „Brot und Spiele“ spielt in der Nachkriegszeit, die Protagonisten, allen voran Bert Buchner, sind seelisch verkrüppelt, wirken unsympathisch, sozialisiert im Nazideutschland, Jahre lang dem Volksempfänger, der Volksgemeinschaft, den Jugendlagern ausgesetzt - ob und inwieweit man sich in Deutschlands dunkelsten Stunden im Vergleich zu heute die eigene Blase aussuchen konnte, erscheint mir Aufgabe einer wissenschaftlichen Studie, vielleicht gibt es die schon, ich vermute, die Möglichkeiten waren eher begrenzt -, die Protagonisten wirken beschwert mit unsichtbarer Schuld, bewusster Schuld, die man verdrängte, relativierte oder negierte, mit grauenhaften Kriegserlebnissen, die sich heute nur vorstellen kann, wer in Kriegsgebiete reist, in einem der vielen Kriege lebt, Bert Buchner, der spätere Europameister in Lenz Fiktion, tötet, wie zuvor abgesprochen, den verwundeten, mit ihm desertierten, dem Tode geweihten Kameraden mit der Spitze des Gewehrs, damit die Verfolger den Schuss nicht hören und läuft davon. Die Protagonisten richten den Blick nach vorne, nach oben und das Pendel schwingt tatsächlich langsam wieder in die Höhe und im Falle Buchners unweigerlich wieder zurück.


Die anderen Nationen lassen die Deutschen wieder mitlaufen, mitspielen im Sport. Ist Sport Krieg? Nein überhaupt nicht. Auch wenn die Ursprünge des Sports in der Vorbereitung und Ertüchtigung der Kämpfer für den Krieg liegen mögen, hat sich der Sport in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts emanzipiert, sodass er mir zur täglichen Gewohnheit geworden ist, in bescheidenem, hoffentlich noch gesundem Umfang, aber das kann man selbst schwer einschätzen. Es ist nicht ratsam, in meinem Alter zu trainieren wie Bert Buchner, als ob ich mich auf ein 10.000 Rennen bei einer Deutschen Meisterschaft oder einer Europameisterschaft vorbereiten würde und auch nicht so asketisch zu leben, wie es die Topathleten des 21. Jahrhunderts gelernt haben, auch wenn mir das die verfügbare Zeit und das angelesene Wissen inzwischen erlauben würde. Das harte Training würde den Körper, die Askese die Seele ungebührlich belasten, schaden, zerbröseln. Man spüre und würdige die Signale des Körpers am Tag nach der Anstrengung, folge seinem Rat und erforsche oder hinterfrage von Zeit zu Zeit, die Beweggründe des eigenen Tuns, nicht nur beim Sport.


Bert Buchner scheint die Selbstreflexionen nach den schmerzhaften Lebenserfahrungen unmöglich geworden zu sein, Bruchstücke der Vergangenheit treiben wie verlorene Container im Meer der Seele, andere tragen in ihrer Brüchigkeit das Selbst, halten es in einsturzgefährdetem Zustand, auch weil er kaum Halt in der Gesellschaft findet und das, obwohl ihm die Frauen zu Füßen liegen. Da ist der Ich-Erzähler, der einzige Freund, sie haben sich im Kriegsgefangenenlager kennengelernt, aus dem Bert geflüchtet ist, der einzige Freund wendet sich ab, als der miese Bert dem Clubkameraden aus Neid in die Ferse tritt, sodass dieser nie wieder laufen kann. Lange lief der Ich-Erzähler mit, wie andere Wegbegleiter Berts, aus Gewohnheit, weil der Erfolg recht gibt, weil Berts Erfolg zum Erfolg der Unterstützer wird? Wenn Sporthelden versagen, versagen Sporthelden, die Unterstützer schütteln den Misserfolg ab wie eine Klette, die sich am Hosenbein verfangen hat. Nach dem Misserfolg wird der Sport zum Spiel, den Triumph feiern alle mit, der Triumph transzendiert das Sportereignis und plötzlich entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, die Klette bleibt ein paar Tage länger am Hosenbein hängen und fällt dann irgendwo im Alltag von alleine ab, dem Rausch folgt der Kater.


Bert und seine Mitstreiter füllten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Arenen, Stadien, Nachfahren des Kolosseums. Die Zuschauer fiebern mit, wenn er seine letzten Runden auf der Aschenbahn zieht. Die wenigsten Athleten konnten damals vom Sport leben. Das ist in der Leichtathletik heute noch so, nicht wie im Fußball. Mit professioneller Vermarktung, dem dazu passenden Auftritt in den Sozialen Medien, der richtigen Einstellung könnte man sich einen Läufer auf Berts Niveau heute als Berufssportler vorstellen. Nur wenn das Schauspiel im Stadion Emotionen im Zuschauer zu wecken verspricht, lockt es Massen und Medien an. Das Sportereignis ist noch immer ein Show-Event.


Wenn Topathleten gegeneinander antreten, genieße ich das ästhetische Erlebnis nur in einem Zustand emotionaler Distanz, mit erhabenem Abstand, aber solider Kenntnis des Sport, so stellt sich die Wertschätzung des Geleisteten bei mir am ehesten ein, wenn ich den Sport schon selbst betrieben habe und ich hatte das Glück, mich in meiner Jugend in vielen Disziplinen zu üben. Berts Freude am Laufen, an der Bewegung, thematisiert der Roman nicht - mir ist es jedenfalls nicht aufgefallen. Immer scheint es um etwas anderes zu gehen. Davonzulaufen, zu fliehen, der Beste zu sein, andere hinter sich zu lassen, zu bekämpfen, den Kampf des Krieges fortzusetzen oder was auch immer, die gesellschaftliche Aspekte des Sports spielen im Roman ihre Rolle. Damals wusste man noch nichts von den biochemischen Botenstoffen, die Bewegung in Muskeln und Gehirn freisetzt, Ressourcen, die zu schöpfen beinahe jedem von uns offen stehen. Vielleicht kommt im Spitzensport Qualität immer auch ein bisschen von Sich-Quälen, wie es ein bekannter Fußballtrainer mal formuliert hat. Man muss sich im Sport nicht quälen, um sich im Alltag mehr Bewegungsfreiheit zu schaffen.


Wer in Lenz Roman keinen Sport treibt, raucht und säuft, Männlein wie Weiblein mit wenigen Ausnahmen. Beim Sport schaute man zu, vergleichsweise wenige junge Menschen betrieben ihn, es gab keine Sporthallen, keine Fitnessstudios, keine Fitnessgeräte, kaum Mitmachangebote, körperliche Arbeit war präsenter in der Nachkriegsgesellschaft. Ich vermute, dass man dem Leib ungern zusätzlichen Stress zumuten wollte. Die gesellschaftliche Elite im noblen Sportclub Victoria, für den Bert lange läuft, der ihn sponsert, der ihm den sozialen Aufstieg ermöglicht, der Fehlverhalten verzeiht, solange er Topleistungen abliefert, kam nicht beim Schleppen von schweren Kisten, Säcken und Eimern ins Schwitzen. Deren Mitglieder überwanden den Raum im Auto, nicht auf dem Fahrrad, nicht gehend oder gar laufend, wenn es mal pressierte.


Die positiven Auswirkungen von Bewegung und Ernährung auf die Gesundheit ist im öffentlichen Bewusstsein des 21. Jahrhundert viel präsenter. Das Nahrungsangebot ist vielfältig, reichhaltig, paradiesisch. Bewegen wir uns deswegen mehr, ernähren wir uns gesünder als nach dem zweiten Weltkrieg? Fest steht, dass wir mehr Kalorien zu uns nehmen, als wir brauchen. Das liegt zum geringsten Anteil daran, dass hier eine kleinbürgerliche Rebellion gegen Nudging emergent werden würde. Schlemmen ist ein köstliches Vergnügen, das ich gerne in den Alltag integriere.


Bert Buchners letzter Lauf um die Europameisterschft im 10.000 m Rennen rahmt den Roman ein, gibt ihm Struktur, indem ihn der Ich-Erzähler immer wieder kommentiert. Berts große Zeit liegt hinter ihm, er startet nochmal für seinen ersten Verein, einen Arbeiterverein, dessen Mitglieder ihn entdeckt und gefördert und den er hinter sich gelassen hatte wie zerschlissene Laufschuhe. Er stürzt 70 Meter vor dem Ziel, in Führung liegend, erschöpft zu Boden und alle ziehen an ihm vorbei und wir wissen nur, dass ihm nichts bleibt als vielleicht der Hilfsarbeiterjob in der Fischfabrik. Wir wissen, dass er sein Wissen als Trainer an die Jugend nicht weitergeben wird, weil er von der Faszination des Sports nie ergriffen wurde, dafür kein Raum in seinem zugemüllten Gehirn bleibt, weil er nur sein Ego erlebt und anerkennt. Immerhin lieferte Bert im letzten Rennen eine große Show, heutzutage wäre das ein idealer Nährboden für kluge Marketingspezialisten und Manager, der Auftritt im Dschungel-Camp garantiert, der Roman endet mit dem Sturz, die Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens wird im 21. Jahrhundert immer ausgefeilter. Was bleibt: Der Mensch ist des Menschen größter Feind, die Durchsetzung der eigenen Ziele mit den Mitteln Gewalt und Krieg erleben wir immer noch, täglich. Welch eine Verschwendung von Ressourcen, wie tragisch für Betroffenen, die Leid tragenden, die vielen Toten!


Auf dem Podest steht Bert Buchner als Gewinner erhaben über den Wettbewerbern, der sportliche Wettkampf ist nur ein Spiel, ob und wie es den Sportler ernährt, welchen Teil sie von ihrem Brot dafür abgeben, entscheiden die Zuschauer, ob sie das merken oder auch nicht.

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