Archäischer Torso Apollos - von Rilke
- rbr0303
- 13. Aug.
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Aktualisiert: 20. Aug.

Archäischer Torso Apollos - von Rilke
Seit über 300 Millionen Jahren fliegen Libellen mit vier Flügeln - ich glaube, als einzige Lebewesen auf der Erde - durch die Lüfte. Die Flugbewegungen sehen auf den ersten Blick so erratisch aus, wie die Worte des weißen, 47. amerikanischen Präsidenten Donald Trump auf mich wirken. Aber mit diesem Vergleich tue ich den Libellen unrecht, denn sie finden immer ihr Ziel. Sie haben sich wenig verändert im Laufe der Evolution.
„Archäischer Torso Apollos“ ist eines der bekanntesten Gedichte Rilkes und Gegenstand zahlreicher literarischer Untersuchungen sowie Ausgangspunkt eines viel beachteten Essays von Peter Sloterdijk aus dem Jahr 2009. Das Gedicht verdankt die breite Bekanntheit dem letzten Satz des Gedichts, den fast jeder schon einmal gehört oder gelesen hat: „Du musst dein Leben ändern.“ Man darf annehmen, dass die meisten, die die Worte kennen, nicht wissen, dass sie einem Rilke Gedicht entspringen.
Das Archäikum umfasst das Zeitalter vor 4,65 Mrd. bis etwa 2,5 Mrd. Jahren. In der Erdurzeit hätten die meisten heutigen Lebewesen, vor allem wir Menschen, keine Sekunde überlebt. In der Atmosphäre gab es keinen Sauerstoff. Cyanobakterien bzw. deren Vorläufer spielten in dieser Phase eine wichtige Rolle für Entstehung der Atmosphäre, wie wir sie heute kennen, indem sie nach dem Prinzip der Photosynthese Licht und CO2 in Zucker und Sauerstoff umwandeln. Das Leben auf der Erde, in den Urozeanen veränderte sich so dramatisch, dass die meisten damaligen Lebewesen ausstarben und im Laufe von Milliarden von Jahren die heute bekannte Flora und Fauna entstand.
Der Gott Apollo, Sohn des Zeus, steht für das Licht, die Sonne, die Schönheit, die maßvolle Begrenzung, das individuelle Schaffen und Tun. Apollo legte sich mit dem Göttervater Zeus an, als der Apollos Sohn tötete. Apollo tötete daraufhin die Kyklopen; Zeus bestrafte ihn dafür. Nietzsche untersuchte in der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik und in späteren Werken das apollinische und das dionysische Prinzip, zwei gegensätzliche Prinzipien, die im Menschen wirken sollen. Dionysos kennen wir als Gott des Weines, der Freude, der Vitalität, er steht für die Maßlosigkeit und den Rausch, dem Aufgehen im Leben, in der Masse.
Rilke beschreibt einen Torso Apollos. Der Kopf fehlt. Die Augen fehlen. Trotzdem kann der urzeitliche Torso Apollos schauen; er glüht und strahlt Licht aus, flimmert aus allen seinen Rändern wie ein Stern. In den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ assoziiert Rilke Sterne mit Freiheit. „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“
Der uralte Torso sprach zu Rilke, nicht wie ein Large Language Model mit uns spricht. In der Evolution verändern sich Lebewesen, wenn sich die Umwelt ändert oder sie sterben aus. Cyanobakterien veränderten ihre Umgebung, ändern sich ausgehend von der Beobachtung der Umwelt von Generation zu Generation nach den Erkenntnissen der Wissenschaft so, dass sie über Milliarden von Jahren als solche erkennbar bleiben. Das Individuum stirbt immer, früher oder später. Der archäische Torso Apollos spricht über den Tod des Individuums hinaus.
Die meist farbenfroh aufleuchtenden Libellen beeindrucken mich immer wieder mit ihren Flugkünsten; die einzelne Libelle lebt eine Woche bis zu zwei Monaten, die Art seit über 300 Millionen Jahren.


