19.11.2025 - Prokrastination im Strudel des Bewusstseinsstroms
- rbr0303
- 21. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

19.11.2025 - Prokrastination im Strudel des Bewusstseinsstroms
Ich verspüre den inneren Drang, einen Text zu schreiben, die Worte über das Blatt fließen zu lassen, doch es gibt heute noch anderes zu tun. Allmählich erblindet die Wohnung, sieht kaum noch, was vor sich geht, fast alle Lampen haben den Geist aufgegeben. Ein großer Bruder brauchte schon eine Spezialkamera, um zu wissen, was wir tun, wenn wir offline sind. Eine unbeleuchtete Wohnung ist tagsüber nichts Schlimmes. Aber die Tage enden im Spätherbst früh, es wird dunkel und wenn es so weiter geht, leuchten des Abends bald nur noch der Fernseher und die Bildschirme der smartphones, Laptops und iPads in unserer minimalistisch eingerichteten Wohnung. Das Lesen in Büchern fände ein natürliches Ende ohne künstliches Licht. Kerzen haben wir keine, außerdem verpesten sie die Luft, obwohl sie mitunter gut riechen und eine gemütliche, heimelige Atmosphäre schaffen.
Die Sonne scheint seit Montag, tagsüber, versteht sich. Gestern war ich lange spazieren, fast zwei Stunden, danach einkaufen, Lebensmittel. Viel frische Luft füllte die Lungen, aber ich hatte keine Lust mehr auf den Baumarkt. Doch den Spaziergang dorthin nehme ich heute hoffentlich bald in Angriff.
Das smartphone signalisiert eine neue Nachricht. Ich reagiere ausnahmsweise sofort, wie es sich gehört. Ein Ex-Kollege von uns hat zweifelhafte Berühmtheit erlangt, wie man so schön sagt. In einer Boulevard-Zeitung lesen wir, dass ein Bekannter oder ein Freund von ihm, Oberkommissar im Regierungsbezirk T., angeklagt ist, Dienstgeheimnisse verraten zu haben. Der Ex-Kollege konnte sich - mutmaßlich nach der Warnung des Freundes - rechtzeitig der Vollstreckung des Haftbefehls entziehen und ist mutmaßlich in der Türkei untergetaucht oder lebt dort in Saus und Braus. Auf dem Foto glaube ich, ihn zu erkennen, obwohl das Gesicht geschwärzt ist. Er steht oder treffender formuliert, er post vor einem Ferrari. Sogar die Justiz wurde also auf ihn aufmerksam, nachdem er anscheinend über eine längere Zeitspanne tugendhaftes Verhalten vermissen ließ?
Das führt mich zur Nikomachischen Ethik von Aristoteles. Die werde ich heute Nachmittag studieren. Das hatte ich mir gestern fest vorgenommen. Sie liegt neben mir auf dem Tisch. Das Lesen erfordert einige Anstrengung, doch ohne dass der Schweiß fließt, wachsen keine Muskeln. Aristoteles schrieb keinen Gesetzestext, ich lese sein Werk als Diskussionsbeitrag über das richtige und das richtige soziale Verhalten und nicht als Handlungsempfehlung, geschweige denn als Handlungsaufforderung für mich und die breite Masse. Aber das Leseerlebnis empfindet eine jede und ein jeder, wie sie oder er es will. Trotzdem sehe ich mich nicht jenseits von Gut und Böse stehend. Jetzt kaufe ich erst einmal ein paar Lampen. Vielleicht lese ich heute Nachmittag auch „Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann weiter. Das Buch reflektiert die Herausforderungen, im falschen Leben das Richtige zu tun. Schreibe ich lieber, als dass ich mich auf den Weg in den Baumarkt begebe?
…
Der Baumarkt war leider eine herbe Enttäuschung. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Der Haupteingang war zu, ich musste die Treppe hinabsteigen. Die Tür vom Eingang der Tiefgarage aus war offen, ich trat ein; wie ich mit Entsetzen las, schließt der Baumarkt in wenigen Tagen für immer die Pforten, sodass dort nur noch liegen gebliebene Waren verkauft werden. Stecklampen hatten sie keine mehr. Ich erinnerte mich, welche im Media Markt gesehen zu haben. Das bedeutete einen Kilometer weiter gehen, vielleicht etwas mehr oder weniger, wer weiß das schon ohne GPS Tracker. Auf meiner Mission kann mich niemand aufhalten.
Der Media Markt führt zumindest passende Stecklampen, sie sehen so ähnlich aus, wie die kaputte, die ich zum Vergleichen mitgenommen hatte. Ein Teilerfolg. Im Einkaufscenter unweit des zukünftigen Elektroschrotts ist eine Buchhandlung, die ich immer gerne besuche. Auch wenn mich von der Unmenge der Bücher in den Auslagen nur wenige ansprechen, finde ich immer ein oder zwei Exemplare, die ich gerne besäße. Aufgrund fehlender Willensstärke fiel ich dem Konsumrausch zum Opfer. Auf dem Rückweg kaufte ich Lebensmittel bei einem Discounter. Schwer beladen kehrte ich im wild romantischen Straßenverkehr, die Abgase und den Reifenabrieb der Autos, Lastwagen und Lieferwagen tief einatmend, nach Hause zurück.
Die Nikomachische Ethik hatte ich noch nicht in der Hand. Ist es nicht offensichtlich, womit ich mich gerade beschäftige? Ob ich heute noch dazu komme, in dem Werk zu lesen? Der Tag neigt sich dem Ende zu, könnte man meinen, weil es um 17.00 Uhr schon dunkel ist. Kerzen haben wir noch immer keine, die Stecklampen funktionieren, dem Lesen wird die Erdrotation heute Abend kein Ende setzen. Das Buch „Einsteins Spuk“ von Anton Zeilinger beschäftigt sich mit Lichtquanten, mit der Teleportation von Information über große Entfernungen hinweg. Zeilinger veröffentlichte es im Jahr 2005. Weil er im Jahre 2022 den Nobelpreis für seine Forschung erhalten hat, wurde es im Jahr 2024 neu aufgelegt (so meine Vermutung). Ich freue mich darauf, es zu lesen, habe es aber erstmal ins Regal gestellt. Marc Aurel liegt neben mir auf dem Tisch, ich konnte nicht widerstehen und habe vorhin kurz rein geschnuppert.
Ob man die Nikomachische Ethik oder Marc Aurels Selbstbetrachtungen in die Hand nehmen, ob man Schüler, Heranwachsende während eines Ethikunterrichts damit beschäftigen sollte? Wenn ja, wer zieht welche Schlüsse aus den Texten? Wie verändert sich währenddessen das Gehirn? Im wahrscheinlichsten Szenario fegen die Worte durch die Gedanken, wie ein laues Lüftchen, an das man sich schon zwei Stunden später nicht mehr erinnert, über die Haut streift, ohne Spuren zu hinterlassen, wie das meiste, was wir achtlos lesen und konsumieren. Doch wer weiß das schon? Ich bezweifle, dass das eine wissenschaftliche Studie jemals evidenzbasiert herausfinden wird. Eher erinnert man sich stattdessen an all die tollen Autos, die man bisher besessen hat, die Ferraris, die Lamborghinis, die satten Motorengeräusche beim Fahren. Glaubt man dem Bericht in der Boulevard-Zeitung, wird man den Ex-Kollegen sobald nicht mehr in Deutschland sehen, weder vor noch hinter dem Steuer und schon gar nicht auf der Anklagebank. Dort sitzt sein „Bruder“ und leidet. Aber überlassen wir das Richten den Gerichten.
Das Licht leuchtet nicht überall in der Wohnung, wie vor dem Gang in den Baumarkt erhofft. Aber es brennt in dem Zimmer für mich allein, in dem ich lese und schreibe; die Ergebnisse bleiben weit hinter unseren Erwartungen zurück, lassen Tiefe und Schwere vermissen. Das ist heute nicht weiter tragisch, denn die tiefen und schweren Gedanken liegen neben mir auf dem Tisch. So feiere ich heute den kleinen Sieg in meinem einsamen, stets heiteren Kampf gegen die Prokrastination.
20.11.2025
Ich habe gestern noch einige Seiten in der Nikomachischen Ethik gelesen, gestöbert trifft es eher. Über Prokrastination hat Aristoteles nicht geschrieben, wohl aber über Lust und Unlust. Prokrastination ist ein neues Phänomen, mit dem sich die psychologische Forschung in vielen wissenschaftlichen Studien auseinandersetzt. In der Antike fanden sich in den Akademien im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nur wenige Studierwillige ein, der Großteil der Bevölkerung arbeitete körperlich oder kämpfte in Kriegen und brauchte keine Bildung. Das Bedürfnis oder die Notwendigkeit, das Verhalten im Hinblick auf die Handlungen, die getan werden müssen, selbst zu steuern, dürfte für die große Mehrheit damals weniger stark ausgeprägt gewesen sein als heute. Man schwang die Peitsche. Das führt uns zu der Frage, wie wir zu der Einsicht gelangen, welche Handlungen mittelfristig oder dringend zu erledigen sind. Damit wäre der erste Schritt aus dem selbstverschuldeten Elend schon getan. Wenn es gar nicht mehr anders geht: Die Peitsche der Routine tut am wenigsten weh.


