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Vergessen und Vergessen werden

  • rbr0303
  • 23. März
  • 7 Min. Lesezeit

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Vergessen und Vergessen werden


Wer Vergessen und Erinnern nicht mehr steuern kann, für den kann der Tod eine Erlösung sein. „Wollt Ihr ewig leben?“ Vom Fluch der Unsterblichkeit und vom Segen der Biotechnologie schreibt Thomas Ramge, den aktuellen Stand der Wissenschaft reflektierend, in seinem lesenswerten Essay. Wie viele wollen im Körper ihrer Jugend möglichst alt werden, verschont von Krankheiten und unglücklichen Wechselfällen des Lebens. Manche tun alles dafür, so lange wie möglich oder gar ewig zu leben, andere lassen sich einfrieren, in der Hoffnung, dass man sie später wiedererweckt, heilt und sie ihr Leben fortsetzen können. Aber was soll die Nachwelt mit einem Hedonisten oder einem Despoten anfangen, der zwei Jahrhunderte Menschheitsgeschichte verschlafen hat und mit einem anachronistischen Weltbild und überkommenen Wertvorstellungen aufwacht. Was sollten wir heute mit einem Despoten aus dem 19. Jahrhundert anfangen, ich vermute, nur der hätte damals die finanziellen Mittel aufbringen können, seinerzeit ein vergleichbares Unterfangen in die Tat umzusetzen, wenn es denn technisch möglich gewesen wäre. Despoten der Geschichte will man am liebsten vergessen. Man erinnert vor allem die Gräueltaten und vielleicht die machtpolitischen und sozialen Umstände, die diese zugelassen haben.


Und für den Fall, dass man doch einmal einen Unfall erleidet, träumt man von einer Medizin, die einen schmerzfrei zurück in den makellosen Körper von ehedem versetzt. Auch wenn die medizinischen Fortschritte beindruckend sind, gehören solche Träume doch immer noch eher in Science-Fiction Bücher und Filme.


Ich bin immer wieder überrascht, wie detailgetreu Mitmenschen Ereignisse beschreiben, die ich nur ganz blass erinnere. Dass sie nicht fabulieren wird deutlich, wenn ich einem Gespräch einer kleinen Gruppe beiwohne und die Umstehenden sich in den Erinnerungen bestärken, während ich, der ich auch dabei gewesen sein muss, innerlich nur mit der Schulter zucke. Und doch dürfte jeder Mensch in seinem autobiographischen Gedächtnis die wenigsten Details des eigenen Erlebens behalten und das meiste vergessen. So ist es auch mit dem, was wir aktiv lernen. Aus der unendlichen Fülle von möglichen Eindrücken, Gedanken, Gefühlen und Handlungsalternativen kann eben nur ein winziger Bruchteil unsere Aufmerksamkeit erregen.


Vergessen werden ist ein kollektives Phänomen. Menschen können vergessen werden, aber auch Tiere, Pflanzen, Sterne, Galaxien, Gedanken, Ereignisse, Musik, Lieder, Bücher, Filme und Kunstwerke, digitale Kulturerzeugnisse vielleicht schneller als alle anderen. Gedanken, die nie geäußert, niedergeschrieben auf Film, Tonträgern, Fotos oder auf andere Weise konserviert wurden, fallen spätestens mit dem Tod eines Menschen dem Vergessen anheim. Vergessen wird man für die Ewigkeit. Im Vergessen werden leben wir in aller Ewigkeit weiter.


Was vergessen wir und warum vergessen wir es? Was vergisst die Gesellschaft und warum bleibt das meiste nicht im kollektiven Gedächtnis haften. Warum erinnern wir Ereignisse und Dinge, wie sie nie gewesen sein können und warum glauben wir daran auf individueller und kollektiver Ebene? Wann sprechen wir von Vergessen? Schon dann, wenn es nicht im individuellen oder kollektiven Bewusstsein wabert? Denn wenn die Erinnerung plötzlich wieder da ist, ist es nicht mehr vergessen. Was triggert den eigenen, was den kollektiven Bewusstseinsstrom in Massenmedien, sozialen Medien und Unterhaltungen in anderen gesellschaftlichen Kontexten, in der Kommunikation innerhalb von Familien, Bekannten und Freunden. Kommunikation unter Personen, die sich nur begegnen, ohne miteinander in nachhaltigen Kontakt zu treten, mag durchaus im Einzelnen Wirkung entfalten. Wer erinnert sich nicht an das ein oder andere Gespräch mit einer Zufallsbekanntschaft, die er später nie wieder gesehen hat, ohne dass man weiß, warum man es nicht vergisst.


Vergessen ist alles, woran wir uns partout nicht mehr erinnern. Wie individuelles Erinnern funktioniert, klärt Neurologie, Psychologie und Psychiatrie. Wie kollektives Erinnern funktioniert, untersuchen Soziologen und Historiker. Damit das kollektive Erinnern funktioniert, braucht es Rituale, Museen, Erinnerungsstätten, Theater, Konzerthäuser, Schulen, Kunstwerke, Bibliotheken, Archive und vieles mehr, vor allem engagierte Mitmenschen, die an Wahrheit glauben. Selbst Nietzsche muss daran geglaubt haben, dass die antiken Schriften, die er las, antike Schriften waren, die Geschichten über Napoleons Heldentaten zumindest dem Kern nach den historischen Tatsachen entsprachen und er den christlichen Glauben treffend analysiert hatte, ehe er ihn demontieren konnte. Erinnern geht mit einem Wahrheitsanspruch einher. Bis dieser eingelöst ist, dauert der Prozess des Erinnerns an. Das ist dann meist eine Glaubensfrage, die mein Gefühl entscheidet. Im kollektiven Maßstab verstummt die Kommunikation.


Entweder es gibt ein Bild des Vergangenen oder mehrere, die nebeneinander stehen können und dürfen, soweit das Individuum oder die Gesellschaft sich dessen bewusst ist und aushält. Es gibt konkurrierende Geschichte, konkurrierende Phänomene, deren Richtigkeit nicht endgültig geklärt werden kann, sei dies deshalb, weil weitere Kenntnisse zur Schließung von Wissenslücken vonnöten wären oder weil sie schlicht unentscheidbar sind. Aussagen, die weder bewiesen noch widerlegt werden können, soll es sogar in der Mathematik geben. Aber um hier Gödel aufs Spielfeld zu bitten, fehlt mir die intellektuelle Kraft.


Wem graust es nicht vor dem Gedanken, eines Tages nicht mehr zu wissen, wo man den Schlüssel hingelegt hat, wo man wohnt, wie man heißt, wo die Kinder wohnen, die Kinder, den Mann, die Frau nicht mehr zu erkennen, wenn sie vor einem stehen, dass Erinnerung aufblitzt, die man aus guten Gründen in den Keller des Vergessens geschlossen zu haben glaubte? Das stellen wir uns zurecht schrecklich vor. Der Geruch eines Tees und der Geschmack eines Madleines mag uns hingegen entzücken, ein Song verschüttete Jugendfreuden hervorzaubern, einen legendären Abend mit Freunden und so dem Vergessen entreißen. Vielleicht fällt beim Umziehen ein Fotoalbums aus dem Regal in unsere Hände oder wir finden einen Pappkarton mit Spielsachen und Fotos im obersten Regal eines Schrankes, der in der Rumpelkammer, auf dem Speicher oder im Keller steht.


Die meisten digitalen Bilder dürften als Trainingssatz für KI-Programme dienen. Vergessen und Erinnern im digital dominierten Zeitalter fordert uns ganz neu heraus. Gesellschaften, die bewusst oder unbewusst falsch erinnern und vergessen, werden dysfunktional wie ein Alzheimergehirn.


Die Wissenschaft beschreibt verschiedene Arten des Gedächtnisses, unter anderen das episodische. Es gibt Menschen, deren Leben ständig in kleinsten Details im Bewusstsein abläuft. Betroffene beschreiben es als Fluch. Wer nichts vergessen kann, dessen Unterbewusstsein dürfte mit Problemen kämpfen, wenn es versucht, eine Lebensgeschichte ins Gedächtnis zu schreiben, die den jeweiligen Lebensentwurf stützt oder begründet. Bedingen andere Arten des Gedächtnisses andere Arten des Vergessens? Mir ist noch nicht zu Ohren gekommen, dass man Schwimmen oder Radfahren verlernen könnte, es sei denn man erleidet infolge eines Unfalls eine Gehirnschädigung. Schafft Vergessen Platz für Neues? Beim Aufbau von Wissenssystemen scheint mir das Vergessen eher nachteilig zu sein. Was nicht oft genug wiederholt und mit bekanntem Wissen fest verdrahtet wird, verschwindet.


In Unzeitgemäße Betrachtungen II schreibt Nitzsche „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Er hatte allen Grund dazu, sich damit zu beschäftigen, wenn man bedenkt, wie sich sein Leben zum Ende hin entwickelt hat. Beim Gedenken an Nietzsches Lebensabend „macht ein Hauch mich von Verfall erzittern“ *).


Im Vorwort von Nietzsches Betrachtungen lesen wir: „»Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß – deshalb, weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das Überflüssige der Feind des Notwendigen ist. Gewiß, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag.“


Nietzsche provoziert gerne. Landet das überflüssig produzierte nicht zwangsläufig auf dem Müllhaufen der Geschichte? Eine andere Gefahr kommt hier noch nicht zum Ausdruck, wenn ich nur an die Tätigkeit denke, die die Beschäftigung mit der Geschichte leiten soll. Wenn ich auf marodem Fundament baue, brauche ich mich nicht wundern, wenn das Gebäude einstürzt. Außerdem bauen immer viele am Haus der Geschichte und die neuen Bewohner bauen in der Regel um. Ich kann mich irren, aber selbst meine Geschichte ist nicht allein mein Konstrukt.


Einen modernen Gedanken bemühend, können wir das Gehirn als eine Vorhersagemaschine begreifen, die Irritationen von außen mit Bekanntem vergleicht, mit dem Ziel Aktionen zu initiieren und umzusetzen, die Lust maximieren, Unlust vermeiden und zukünftige Belohnungen erwarten lassen. Funktionieren auch gesellschaftliche Gruppen nach diesem Prinzip? Mache ich es mir hier nicht zu einfach? Ganz gewiss. Reizvoll finde ich den trivialen Gedanken allemal, vor allem, wenn ich ihn mit Nietzsches Auseinandersetzung mit der Geschichtswissenschaft in Verbindung bringe.


Wenn wir etwas vergessen, ist es nicht mehr präsent, wir erinnern uns nicht mehr daran. Wann ist etwas wirklich vergessen? Welche Spuren hinterlässt etwas in unserem Gehirn, an das wir uns nicht mehr erinnern können? Spukt Vergessenes noch in unserem Unterbewusstsein herum? Fördert das eine Psychotherapie zu Tage und wann ist das wünschenswert? Und wie ist das Phänomen auf gesellschaftlicher Ebene zu bewerten? Gesellschaftliche Agenten müssen einen Treffer in den klassischen oder den sozialen Medien landen, damit Vergessenes überregionale Resonanz erzeugt. Wir sitzen nicht mehr am Lagerfeuer und erzählen uns Geschichten von unseren Ahnen oder fassen diese in Mythen, die wir singend und tanzend bei spirituellen Festen wiederholen und so am Leben halten.


Und ich hab‘ alles vergessen, was nicht gepasst hat, als ich so alt war wie du!

Ich hab’ alles gegessen, was auf den Tisch kam, als ich so alt war wie du!

Und jetzt will ich belohnt werden dafür.

Bald werd‘ ich das Essen vergessen und essen, was auf dem Tisch steht.

Und nichts wird mehr passen, weil ich alles vergessen haben werde,

Was mir jemals wichtig war.


Das sollten wir jetzt schnell wieder vergessen. „Das raffinierte Tier tat‘s um des Reimes Willen“ **). Was wir vergessen wollen, bleibt leider eher in uns haften, als als etwas, was wir behalten wollen oder sogar sollten. Wer eine neue Sprache lernt, vergisst schnell mehr Wörter, Grammatik, Sätze und Wendungen, als er jemals gelernt hat. Ich will mich nicht immer selbst ins Spiel bringen, deshalb schreibe ich wir. Die Bedeutung erlangt das Wort im Wert der erinnerten Information für Gegenwart und Zukunft. Und so kämpfen wir manchmal gegen das Vergessen, wenn wir den Schlüssel oder stammelnd in der noch fremden Sprache Hilfe suchen. Aber ohne diese Spielart der Entropie fehlt auch der Platz für Neues, für den Aufbruch. Unwissend bewegen wir uns im Leben auf schmalen Graden über dem Abgrund, manchmal zu unserem Glück, dann wieder zu unserem Leidwesen.




*) aus: Herbst von Georg Trakl

**)aus: Das ästhetische Wiesel von Christian Morgenstern

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