Unterwegs zu Swann vor der Brandung im Norden von Corralejo
- rbr0303
- 3. Apr.
- 2 Min. Lesezeit

Unterwegs zu Swann vor der Brandung im Norden von Corralejo
Wer sich mit einem literarischen Werk beschäftigen will, in dem so gut wie nichts passiert, der findet auf den ersten 50 Seiten bei Marcel Proust alles, was er sich erträumen mag, Überraschungen stiller Natur, feine Beobachtungen, zarteste Erschütterungen einer Seele, die sonst unbemerkt bleiben. Menschen der Tat, Abenteuer- und Vergnügungssuchende mögen weniger Gefallen auf der Suche nach der verlorenen Zeit finden.
Der Wind wütet häufig heftig an der Nordküste von Fuerteventura und peitscht das ohnehin vom Canarenstrom in Bewegung gesetzte Meerwasser gegen die schwarzen Lavafelsen, sodass an zahlreichen Stellen mehrere Meter hohe Wasserfontänen aufsteigen, während weiter draußen - nach meinem Empfinden - Todesmutige die hohen Wellen absurfen.
Heute wehte der Wind aus westlicher Richtung, Sandkörner treffen meine Haut, es fühlt sich an wie Nadelstiche. Ich balanciere auf den Lavafelsen, wie schon oft, um der Brandung näher zu kommen, ein schwieriges Unterfangen heute, weil mich der Wind schon auf dem Pfad zum Strand umzublasen drohte. „Ja die Gewohnheit! Sie ist eine geschickte Einrichterin, die unseren Geist zunächst einmal in einem Provisorium schmachten lässt; doch ist er trotz allem froh, sie vorzufinden, denn ohne die Gewohnheit, nur auf sich selbst gestellt, wäre er außerstande, uns eine Behausung bewohnbar zu machen.“ (*1)
Das Smartphone lebt noch, die Mütze liegt auf dem Tisch und nicht auf dem Meeresgrund, ich sitze in der Ferienwohnung, die mir inzwischen vertraut ist. Es waren weniger Zimmer und Gegenstände zu erkunden als in einem gutbürgerlichen Haushalt im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Unmittelbar lebensbedrohliche Erfahrungen in unserem gewöhnlichen Umfeld beschränken sich fast nur auf Krankheiten und Verbrechen. Letztere erleben wir selten am eigenen Leib. Unfälle kann man nicht immer vermeiden, die meisten anderen Herausforderungen spielen sich in unserem Kopf ab. Der Surfer oder der Kite Surfer lebt ganz im Hier und jetzt wie der Kajakfahrer, der sich wilde Gebirgsflüsse hinabstürzt, sogar ich, wenn ich einfache Gewässer mit dem Kajak erkunde. Wasser beruhigt, Wasser ist eine Naturgewalt.
Aber auch im Hier und Jetzt in existenzbedrohlichen Umständen, während des Surfens, Kite Surfens oder Seekajakfahrens auf dem offenen Meer hilft willkürliche und unwillkürliche Erinnerung an das einmal Erlernte und Erfahrene. Proust muss man nicht gelesen haben, bevor man sich in die Wellen stürzt, es bereichert auf anderer Ebene, aber eben nicht jeden.
*1) aus Marcel Proust Unterwegs zu Swann (suhrkamp Edition)
Das Foto ist, wie unschwer zu erkennen ist, auf der Westseite von Corralejo aufgenommen. Wegen widriger Umstände war es heute nicht möglich, auf der Nordseite das Smartphone nahe genug auf die Brandung zu richten.


