Triest, 31.08.2025
- rbr0303
- 11. Sept.
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Triest, 31.08.2025
Sonntag Morgen. Ich wachte auf. Helles Licht drang durch die Fensterläden. Ich freute mich auf frisch aufgebrühten Kaffee, süße Früchte, leckere Backwaren, den Blick aus dem Küchenfenster in den grünen Garten.
Narrative bewegen. Wenn ein Begriff in den Jargon der Consultingbranche einzieht und in den sozialen Medien, Zeitschriften und Zeitungen - online, wie offline - Karriere macht, vielmehr noch, wenn es der Begriff in mein Bewusstsein schafft, ist es fast schon zu spät, darüber nachzudenken. Der tägliche Gebrauch, insbesondere zu Werbezwecken nutzt den Begriff so schnell ab, dass bald ein neuer gefunden werden muss, der das Gleiche oder Ähnliches ausdrückt, vielleicht mit einer Prise eines unbekannten Gewürzes verfeinert.
Narrative sind Sinn stiftende Erzählungen, die Emotionen ansprechen, also auf das Bewusstsein des Einzelnen, soziale Blasen oder Gruppen zielen, um kohärente Wahrnehmungsmuster und letztlich kohärentes Handeln zu erwirken. Ein Narrativ geht über die Bereitstellung von Fakten weit hinaus. Fällt das Narrativ auf keinen fruchtbaren Boden, fällt es ins Nichts, wird zur Nichtinformation. Die Welt braucht uns nicht. Die Welt will nichts, die Welt braucht keine Begriffe und Sätze.
Das Wetter war herrlich. Die Sonne schien, es war warm, aber nicht heiß, als wir nach dem Frühstück das Haus verließen. Wir hatten an diesem Morgen zwei Tagesziele festgelegt: Einen Kaffee im Caffè San Marco zu trinken und am Meer zu chillen, dort vielleicht zu lesen. Nach zwei Tagen kennt man die Straßen in der näheren Umgebung der Unterkunft, selbst in einer fremden Stadt; Triest wächst einem schnell ans Herz; man muss sich nicht ausschließlich auf die Navigation des Smartphones verlassen.
Der Weg führte uns vorbei am Castello San di Guisto, durch den nahegelegenen, Schatten spendenden Parco della Rimembranza, gewundene Treppen hinab, an Brunnen vorbei, in die lebhafte Altstadt und natürlich blickten wir das ein oder andere Mal auf das Display, um das Caffè San Marco zu finden. Die Inneneinrichtung dürfte sich in den letzten 110 Jahren nicht allzu sehr verändert haben, in der Buchhandlung standen auf jeden Fall andere Bücher.
Welche Geistesgrößen das Caffè San Marco auch beehrt haben mögen, sie hinterließen keine fühlbaren Spuren. Der Kaffee ist so köstlich wie in jedem anderen Café in Triest oder meine Geschmacksnerven sind, was wahrscheinlicher ist, nicht sensibel genug, um den Unterschied zu schmecken. Der Espresso muss besser sein, er ist doppelt so teuer. Ein Mann sitzt in der Ecke und liest Zeitung. Neben ihm steht eine leere Glastasse auf einem Unterteller. Eine Touristin isst eine Sachertorte und trinkt einen Milchkaffee dazu. Ihr Mann verspeist ein Sandwich. Die Bücher in der Auslage der Buchhandlung sind edel, Bücher in italienischer Sprache, einige Autoren bürgen für Qualität, soweit ich das beurteilen konnte. Ich bedauerte, des Italienischen nicht mächtig zu sein.
Unser Weg zum Meer führte uns vorbei an belebten Straßen, ehrwürdigen Gebäuden, in die großzügig angelegte Fußgängerzone, vorbei an der Chiesa Sant‘ Antonio Nuevo, der serbisch-orthodoxen Kirche der Dreifaltigkeit, entlang des Canale Grande, der bereits den Blick aufs Meer freigibt. Den Canale Grande entlang boten Händler auf dem Flohmarkt den nicht mehr benötigten Hausrat, alten Schmuck, Platten, vergilbte Bücher, CD‘s und DVD‘s an; soweit ich erkennen konnte, liefen die Geschäfte schlecht; die Stände schufen eine malerische Kulisse für die durchströmende Menschenmasse und natürlich auch für uns.
Unter der brütenden Mittagssonne gingen wir auf dem 250 Meter langen, weit ins Meer hinaus greifenden Kai, der Mole Audace, bis zur Rosa dei venti. Das salzige Wasser schwappte fast unmerklich gegen die Kaimauer. Es kommt einem so vor, als wäre man Jesus, wenn man auf der Mole Audace spazieren geht. Am gegenüberliegenden Steg lag ein riesiges Kreuzfahrtschiff; das wollte nicht recht zur altehrwürdigen Uferpromenade passen. Es verdeckte die Sicht auf ein zweites Kreuzfahrtschiff dahinter und schien doch das beliebteste Fotomotiv auf dem Steg zu sein. Das Kreuzfahrtschiff am Tag davor blickte auf die majestätische Piazza dell’Unità d’Italia, die neoklassischen und barocken Gebäude, die den Platz umrahmen, den Brunnen der vier Kontinente und dachte sich nichts dabei, genauso wenig wie die Schiffe, die die Piazza mit dem Hinterteil beehrten.
Ich suchte einen schattigen Platz und fand ihn neben einem bekannten Kaffeehaus im alten Hafenviertel. Wird ein Kaffeehaus bedeutend, wenn unbekannte, mittellose Schriftsteller dort verkehren? Das Casa Stratti beherbergt das Caffè degli Specchi. Joyce und Rilke sollen das Café besucht haben, vielleicht sogar Kafka. Die meisten Gäste werden nicht einmal die Namen der großen Schriftsteller kennen. Der intellektuelle Austausch über und die Marketingaktivitäten für Literatur finden heute an anderen Orten statt.
So durch die Stadt zu schlendern, das Treiben der Menschen, der Vögel, der Hunde, die sich sanft im Wasser wiegenden Boote, die Gebäude, das endlose Meer zu betrachten und dabei nicht allzu vielen Gedanken nachzuhängen, keine hoch kochenden Emotionen bändigen zu müssen, wirkte beruhigend auf das Gemüt.
Die Zeit bleibt nicht stehen, spielt aber keine Rolle, das Gespräch plätschert berauschend dahin, über das Erlebte, von morgens bis spät in den Abend hinein. Das Erleben und damit auch das Leben ergab sich an diesem Tag aus der Bewegung und brauchte kein Narrativ; das kühle Bier in der schattigen Fußgängerzone erfrischte die Seele. Das unmittelbare Erleben schließt das Narrativ aus; mögen Narrative auch Erlebtes beleben und darauf aufbauend ihren Zauber, ihre bisweilen verhängnisvolle Wirkung entfalten; aber das ist eine andere Geschichte.
Kinder kreischten, Hunde bellten, die Sonne versank im Meer am letzten Sonntag Abend im August 2025.


