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Sète - Anfang Juni 2025

  • rbr0303
  • 5. Juni
  • 3 Min. Lesezeit

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Sète - Anfang Juni 2025


Am 03. Juni kam ich nach einer Tagesreise mit dem Zug abends in Sète an. Nachdem ich den Bahnhof verlassen hatte, fehlte mir die Orientierung. War ich auf dem Weg zum Meer oder zum Étang de Thau, dem 18 km langen und 8 km breiten „Teich“, die der Mont Saint-Clair, die Stadt und der 12 km lange Sandstrand vom Meer trennen? Der kleine smartphone Bildschirm schaffte kaum Erleichterung. Da konnte ich nur erkennen, in welche Richtung ich gehen musste. In der Wohnung fand ich einen kleinen Stadtplan. Auf dem konnte ich trotz Brille auf der Nase die Straßennamen zwar nur erahnen, aber er verschaffte mir einen Überblick, in welcher Richtung ich das Meer finden würde. Ein tolles Druckerzeugnis, das mit meiner Generation wohl aussterben wird.


Viele Gebäude in der Altstadt sehen auf den ersten Blick, von außen betrachtet, unbewohnt aus, so als drohten sie zu verfallen, mag sein, dass sich darin Luxuswohnungen verstecken. Auf dem Mont Saint-Clair steht eine Millionenvilla neben der anderen, der Ort, wo die Häuser stehen, macht sie so wertvoll. Anfang Juni sind Gärten und Parks grün, Blumen blühen, Vögel zwitschern und kreischen. Entlang der Kanäle und in den zahlreichen Häfen reiht sich ein Boot an das andere, eine Bar an die nächste bis zum alten Hafen, Brücken verbinden die einzelnen Stadtteile. Wasser ist allgegenwärtig. Sète wirkt malerisch in der Abendsonne, eine Stadt im Mutterleib der Natur.


Oberhalb des alten Hafens in Richtung des Théatre de Mer liegt der Friedhof, auf dem Paul Valéry beerdigt liegt, schade, dass die Toten den schönen Ausblick nicht genießen können, aber man weiß ja nie …, zweifellos ein schöner Ort für die ewige Ruhe, ein Trost für die Hinterbliebenen, direkt daneben ist das Musée Paul Valéry, in den Berg eingebettet, in dem Kunst vom 19. bis 21. Jahrhunderts ausgestellt ist.


Auf dem Weg zum Friedhof lief ich durch einen kleinen Park oder Garten, in dem Fotografien auf Leinwänden standen. Sie zeigten Séte und Umgebung. Erst erweckten sie den Eindruck, es handle sich um Gemälde. Die Fotografien zeigen die Landschaft oder Ausschnitte davon, während sie in der Landschaft stehen. Das musste ich fotografieren. Ein herrliches Spiel für mein Bewusstsein. Jede Fotografie ist die Interpretation einer Beobachtung. Hinter jedem Bild ist ein anderes Bild verborgen. Es macht einen Unterschied, ob ich die Fotografie einer Landschaft oder die Landschaft selbst beobachte, wie es einen Unterschied macht, ob ich die Zusammenfassung eines Textes oder den originären Text lese. Verstehe ich die Zusammenfassung, verstehe ich eben nicht den Text, sondern nur die Gedanken der Zusammenfassung. Das Bild wirft ein anderes Licht auf die Realität als die eigene Beobachtung. Wir verzichten zunehmend auf die eigene Beobachtung, das eigene Denken, aus Bequemlichkeit, weil wir zu müde sind, keine Zeit haben? Die Beobachtung der Beobachtung des Beobachters des Phänomens, das man beobachtet hat, kann erhellend sein, wenn man sie staunend betrachtet, als neues Phänomen, ohne die eigene Beobachtung dabei aus dem Blickfeld zu verlieren.


Das Musée Paul Valéry lohnt den Besuch. Die Bücher des libanesischen Dichters Salah Stétié, die er in Zusammenarbeit mit Malern geschaffen hat, sind besonders reizvoll, sie schöpfen Wissen aus dem rational nicht Erklärbaren.


Der Gipfel des Mont Saint-Clair gibt den Blick frei auf die Lagune des Étang de Thau, die Austernbänke, die Altstadt von Sète, den Strand und die hügelige Landschaft dahinter, den neuen Hafen und das Meer, den Horizont, in dem sich Himmel und Wasser in unseren Gedanken treffen, mit Boot und Schiff unerreichbar, wie wir zu wissen glauben. Die Kapelle Notre-Dame-de-la-Salette de Sète ist von außen eher unscheinbar, innen zieren Fresken und Skulpturen das maritime Gotteshaus. Vom Gipfel führt eine Treppe in die Altstadt, vorbei am Lycée Paul Valéry in die Rue Valéry. Neben Paul Valèry begegnet man auch Georges Brassens, dem anderen großen Künstlersohn der Stadt, an zahlreichen Orten in Sète. Ob ich es schaffe, den Espace Georges Brassens in den nächsten Tagen zu besuchen, wird sich zeigen, die Stätte liegt außerhalb der Innenstadt.


Gestern war Mittwoch, Marktag in der Fußgängerzone rund um Les Halles, wo kulinarisch alles geboten wird, was Auge, Nase und Gaumen erfreuen, ein Fest und eine Freude für die Sinne, vielleicht nicht alles gesund, Verführung des Leibes zur Völlerei, Labsal für die erschlaffte Seele, Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen.


Wer das Mondäne sucht, wird in der Altstadt nicht fündig. Mir gefällt die Bodenständigkeit.

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