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Les Boréades - Ein Opernbesuch

  • rbr0303
  • 24. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 7. Nov.

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Les Boréades - Ein Opernbesuch


Ich kannte die Oper „Les Boréades“ von Jean-Philippe Rameau nicht einmal dem Namen nach. Sie zählt nicht zum Standardrepertoire der großen Opernhäuser - als ob ich die bedeutendsten Werke auch nur aufzählen könnte; wir kennen auch keine bekannten Single-Auskopplungen im Stile einer Arie wie „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“. Rameau war schon über 80 Jahre alt, als er die Oper 1763 schrieb, ein Jahr vor seinem Tod soll sie fertig geworden sein. Die Uraufführung erlebte er nicht mehr, sie fand laut Wikipedia konzertant drei Jahrhunderte später 1975 in London und szenisch erst 1982 in Aix-en-Provence statt. Handlung und Musik machen auf mich - ich würde mich eher als Laien bezeichnen denn als großen Connaisseur - einen recht komplexen Eindruck.


Das Badische Staatstheater hat das Spektakel in der Spielzeit 2025/2026 ins Programm genommen. Die Inszenierung ist aufwändig gestaltet, aber nicht pompös, weniger wegen des Bühnenbildes; es wirken neben vielen Sängerinnen, Sängern, dem großen Chor des Theaters auch zahlreiche Tänzerinnen und Tänzer mit, deren Bewegungen die Handlung, die Umgebung, die Seelenzustände der Protagonisten, die Welt der Götter und soziale Konstellationen der handelnden Personen lebendig werden lassen. So schmeichelt die Darbietung nicht nur Augen und Ohren sondern auch dem motorischen Bewusstsein. Wer sich vor der Vorstellung nicht mit dem Libretto und der Handlung vertraut machen konnte, findet in den Übertiteln den französischen Originaltext und eine freie deutsche Übersetzung. Die Übertitel fand ich sehr hilfreich. So konnte ich dem Gesang in französischer Sprache leicht folgen, wenngleich Lesen, Hören, und Schauen Konzentration abverlangte.


Vielleicht hätte ich das Libretto doch vorher kurz auswendig lernen sollen wie die Hauptfigur Julien im Roman „Rot und Schwarz“ von Stendhal das Neue Testament in lateinischer Sprache und noch so einige andere Textpassagen mehr. In den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts gehen die feine Gesellschaft, die Kurtisanen und Emporkömmlinge gerne in die Oper, um zu sehen und gesehen zu werden, für ein zwangloses Stelldichein, zum Flirten oder um eine Affäre in die Weg zu leiten oder lebendig zu halten. Die künstlerischen Darbietungen und die Werke werden darin selten thematisiert, stattdessen steht das gesellschaftliche Ereignis im Vordergrund.


Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn die anderen Besucher an diesem Abend gekommen wären, um zu posen und zu schauen, wer mit wem da ist, wer wie gekleidet ist, wer mit wem spricht, anstatt sich an den künstlerischen Leistungen zu erfreuen oder damit zu hadern, je nachdem mit welchem Anspruch der ein oder andere Besucher den Weg ins Staatstheater gefunden hatte. Ich maß die Leistungen an meinem Vermögen, Klarinette zu spielen, zu singen und an meinem Bewegungstalent - früher und heute. Zugegeben, bei mir hängt die Latte, die die Künstler zu überspringen haben, nicht hoch, sodass bei mir auch schnell Freude aufkam, als das Spektakel begann. Und trotzdem bilde ich mir ein, einen himmelweiten Qualitätsunterschied zwischen dem Genuss des Opernbesuchs auf der einen und dem Konsum eines Influencervideos, die teilweise schon im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt werden, auf der anderen Seite zu erkennen; aber dafür übertrifft die Reichweite bekannter Influencerinnen und Influencer mit ihren Videos die einer Opernvorstellung um mehrere Zehnerpotenzen.


Es ist schade, dass nur wenige junge Menschen den Weg in die Oper finden, obwohl viele Akteure auf und vor der Bühne im Orchestergraben in ihrem Alter sind. Doch warum sollte man sich warm anziehen, vor die Tür treten und den mühsamen Weg ins Theaterhaus suchen, um ein Werk anzuschauen, das 1763 vollendet wurde? Die meisten mögen befürchten, dass die Darbietung langweilt oder gar aufregt statt anregt. Und dann ist es auf den ersten Blick auch noch ein sehr teures Vergnügen, wenn man es mit dem Konsum eines Videos vergleicht. Das kostet nur die eigenen Daten und verleitet einen schlimmstenfalls zum Kauf eines unnötigen Produktes.


„Les Boréades“ verhandelt Themen, die gerade für junge Menschen von lebenswichtigem Interesse und der gründlichen Abwägung würdig sein dürften. Soll man wegen einer Liebe auf die Karriere verzichten? Ist man als mieser, kleiner Staatsbürger besser bedient, wenn man denen da oben blind folgt oder die Obrigkeit selbst wählt? Die machen eh, was sie wollen und wir miesen, kleinen Staatsbürger sind deren Winden hilflos ausgesetzt, wenn wir unseren Willen kundtun. Wo liegen die Unterschiede zwischen den Verhältnissen vor dreihundert Jahren und heute? Welche Anziehungskräfte wirken auf große Teile der westlichen Gesellschaften, in welcher Form kommen sie heute daher, dass wir auf die Entscheidungsgewalt über die Wahl unseres Führungspersonals so bereitwillig verzichten. Welche Mechanismen treiben weite Kreise der westlichen Welt in die Fänge von Autokraten? Wer sind heute unsere Götter? Gibt es einfache Antworten? Oder sind sie so komplex wie die Musik Rameaus und die szenische Darbietung des Ensembles?


Die Königin Alphise liebt Abaris, den Helfer des Oberpriesters von Apollon (Adamas). Die Hofgesellschaft drängt sie, endlich einen würdigen Gemahl als König zu wählen. Dafür kommen nur zwei unsympathische Nachkommen des mächtigen Windgottes Borée in Frage, die Prinzen Calisis und Borilée. Abaris Herkunft ist unbekannt; er zweifelt, zaudert und ist wehleidig, alles andere als mit Heldenmut gesegnet, eher ein sympathischer, liebeswürdiger Durchschnittsbürger, aber unsterblich in Alphise verliebt und bereit, für sie sein Leben zu lassen, immerhin. Alphise räumt ihrer Liebe höheren Wert ein als ihrer Position, verzichtet auf den Thron und bittet das Volk, den König zu wählen. Amor ist damit einverstanden, dass Alphise, sich für die Liebe entscheidet und überreicht ihr einen Zauberpfeil. Die Wahl des Volkes fällt auf Abaris. Das erzürnt die Prinzen und vor allem den Windgott Borée. Er verwüstet das Land, sein Wind trägt Alphise in sein Reich, wo man sie foltert mit dem Ziel, dass sie einwilligt, einen der beiden Prinzen zum König zu wählen. Abaris bleibt gebrochen mit dem Zauberpfeil zurück, den ihr  Alphise zuvor übergeben hatte. Adamas rüttelt Abaris auf, gemahnt ihn, dass er sich beweisen müsse. Abaris bittet Apollon um Hilfe. Mit göttlicher Hilfe fasst Abaris neuen Mut, gelangt ins Reich Borées und bezwingt die Widersacher. Apollon offenbart, dass auch Abaris ein Nachfahre Borées ist; der Liebe zwischen Alphise und Abaris steht nun nichts mehr im Weg; Abaris erlöst großmütig die beiden Prinzen mit dem Zauberpfeil und Apollon erleuchtet das düstere Reich Borées. (Handlung stark verkürzt).


Alphise kann den oberflächlichen Zerstreuungen ihrer Zeit - wie der Jagd - nichts abgewinnen. Warum verzichtet sie auf den Thron? Stellt sie das eigene Liebesglück über ihre Pflicht als Königin gegenüber ihrem Volk? Man kann davon ausgehen, dass die Flamme ihres politischen Einflusses durch eine Heirat mit Calisis oder Borilées erloschen wäre. Beide Prinzen hätten das Volk mit eiserner Hand geführt. Handelt Alphise nicht auch aus politischem Kalkül? Um diese Frage näher zu untersuchen, müsste ich das Libretto noch einmal studieren.


Die Oper „Les Boréades“ endet glücklich. Das harmonische Verhältnis zwischen der Welt der Götter und der Sterblichen ist wieder hergestellt, Alphise mit Abaris vereint als Königin und König, das Königreich erleuchtet.


Beim Verlassen des Opernsaals hatte ich den Eindruck, dass sich die Altersstruktur des Opernpublikums in den letzten 30 bis 40 Jahren kaum geändert hat - im Gegensatz zu meinem Alter, das zum Glück stetig voranschreitet. Doch selbst, wenn ich Rameaus Alter erreichen sollte, als er verschied, werde ich mich nicht damit unsterblich machen, dass ich ein bleibendes Kunstwerk hinterlassen haben werde. Die Oper wurde schon vor 40 Jahren totgesagt, als antiquiert verschrien und von einigen als reaktionärer Klamauk für das Bildungsbürgertum betrachtet. Ich könnte mich mit dem glücklichen Ende der Oper „Les Boréades“ zufrieden geben, doch die vielen offenen Fragen heben mich auf eine höhere Umlaufbahn, heraus aus dem wohligen, mit Eitelkeit garnierten Gleichgewichtszustand. Rameau war über 80, als er „Les Boréades“ schrieb; das nährt die Hoffnung, dass mir noch einige Jahre bleiben, Antworten zu finden - wir möchten gerne glauben, dass alles gut wird und wissen doch, dass es nicht so ist. Ich bleibe dran und werde berichten.

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