Die Wüste lebt
- rbr0303
- 5. Apr.
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Die Wüste lebt
Ich stand vor einer Wüste, im Rücken die kleine Siedlung und dachte für einen Moment, der ewig zu währen schien, an gar nichts, die Stille des Ortes mag meine Gedanken zum Schweigen gebracht haben. Als ich erwachte, sah ich in der Ferne das Meer, die Insel Lobos, einen schmalen Streifen der Grandes Playas. Der Blick wanderte auf die unmittelbare Umgebung, mir kam der Gedanke in den Sinn, einen Weg durch die Wüste zum Meer zu suchen, mein Blick tastete die unmittelbare Umgebung ab, ich glaubte einen Pfad entdeckt zu haben. Unwillkürlich setzte ich mich auf diesem in Bewegung, aufmerksam auf dem Boden nach den kleinen Lavasteinen Ausschau haltend, über die ich so gerne stolpere, ich trage mehrere Narben auf Handflächen und Knien. So leicht die Steine sind, wenn man sie anhebt, so tief schneiden sie ins Fleisch, wenn man darauf fällt. Da braucht es vermutlich mehrere Millionen Jahre, bis das Salzwasser der Meeresbrandung solche scharfen Waffen in harmlose Kieselformen geschmirgelt hat.
Nach 50 m endete der Weg in der Wüste. Eine natürliche Sackgasse. Der Weg war nicht von Menschen gemacht. Wenn man den Blick über die Wüste schweifen lässt, ohne auf Einzelheiten zu achten, sieht man eine gräulich-gelbe Fläche, die nur in der Morgen- oder Abendsonne rötlich leuchtet, ansonsten dunkelgraue, fast schwarze Lavafelsen, und irgendwann große und kleine Lavasteine. Während ich überlegte, ob ich den Weg fortsetzen sollte, das Ziel war zum Greifen nah, mehr als 20 Minuten hätte ich zu den Grandes Playas sicher nicht benötigt, bemerkte ich, dass die Wüste lebt.
Neben Lavabrocken, winzigen weißen und etwas größeren grauen Steinen entdeckte ich kleine grüne Pflanzen neben wie tot aussehendem Gestrüpp, aus dem Gestrüpp sich erhebend eine prächtige grüne Pflanze, von Flechten bewachsene Felsbrocken und etwas weiter daneben streckte mir ein gelbes Blümchen, das ein bisschen aussah wie Löwenzahn, ihre Blüte entgegen. Dass die Wüste lebt, weiß ich seit meinen Kindertagen, seit ich den gleichnamigen Dokumentarfilm der Walt-Disney Studios oder die Werke von Bernhard Grzimek gesehen habe, aus Fernsehbildern oder Videos in den sozialen Medien, wenn mal wieder eine Wüste nach einem Regenguss spektakulär aufblüht, wie neulich in Kalifornien geschehen. Was wir von der Welt wissen, wissen wir von den Massenmedien, die eigene Erfahrung ersetzen sie nicht.
Ich entschied mich umzukehren, den Pfad vorsichtig zurückzugehen, um wenigstens nicht bewusst auf ein kostbares Lebewesen zu treten und wählte den gepflasterten Weg in die Stadt, der die Wüste von den der Wüste abgerungenen Siedlungen trennt, die Wüste durchschneidet, wenn man es so beschreiben will. Auf den bereits verwitternden Pflastersteinen begegneten mir Möven, Eidechsen und Altashörnchen, die zwar niedlich aussehen aber deren Ahnen vor einigen Jahren hier ausgesetzt wurden oder ausgebüxt sind und inzwischen weite Teile der Insel bevölkern. Die Samen der Pflanzen in der Wüste dürften mit Wind und Regen den Weg auf die karge Erde gefunden haben, die ersten Menschen kamen über das Meer. Die Eidechse war schreckhaft und hat sich sofort zwischen Steinen und Gestrüpp versteckt, keine Ahnung, wie die Vorfahren der Eidechse auf die Insel kamen.
Manche Menschen sind auch schreckhaft, die meisten nicht. Die schlimmsten Exemplare trampeln auf der Erde, ihren Kreaturen und ihren Mitmenschen herum, als wären sie deren Herren. Vielleicht liegt das in der Natur der Menschheit, vielleicht ist das in uns allen angelegt. Unsere eigenen dunklen Flecken sehen wir nicht, da sind wir blind. Je nach persönlichen Präferenzen tun wir das eine und lassen das andere. Aber je größer wir werden, desto mehr Schaden richten unachtsame Bewegungen an. Die Sklaven suchen sich ihre Herren und werden sie dann nicht wieder los. Zum Trost ereilt beide das gleiche Schicksal. Der Natur ist eine bestimmte Spezies gleichgültig. Die Natur lebt auch in der Wüste und ich lebte abends meine dunkle Seite aus, indem ich ein Glas Rotwein trank. Zuvor hatte ich am Ufer stehend und gehend in sicherer Entfernung gedankenverloren, vielleicht war Ehrfurcht im Spiel, auf die sich brechenden Wellen, die tosende Brandung und die Surfer geschaut und in einem wachen Moment die untergehende Sonne fotografiert, auf dass ich mich später erinnere. Ein Madeleine, getränkt in Lindenblütentee, hat man nicht immer zur Hand. Ich war mal wieder „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ unterwegs.



