Bergwandern im Montafon - Woran ich dabei denke und woran nicht
- rbr0303
- 6. Aug.
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Bergwandern im Montafon - Woran dabei denke und woran nicht
Beim Bergwandern kommen mir keine Gedanken in den Sinn. Vielleicht meldet die Ferse einen Schmerzreiz, ich sehe Himbeeren, bleibe stehen und greife danach, schmecke sie, der Blick schweift vom Weg selten ab auf Bäume, Farne, Gräser, Blumen, Felsformationen, einen Wildbach; pfeift ein Murmeltier, bleibe ich stehen und suche es mit den Augen, die Tiere sind sehr scheu. Ich atme die frische Gebirgsluft, rieche den Wald, spüre den Regen, die Feuchtigkeit auf der Haut. Selten bekommt Wahrgenommenes einen Namen, das Sprachzentrum schweigt, rührt sich nicht.
Ich wandere allein, aber viel lieber in Begleitung. Dann reden wir wenig, die Wege erlauben nicht, dass man nebeneinander geht, außerdem mag die Anstrengung und die Konzentration auf den Weg keine Unterhaltung zulassen; wir gehen nicht in jeder Wegpassage im gleichen Tempo, ein Abstand entsteht zwischen uns und doch spüre ich die Begleitung, spüre, wie der Abstand zwischen uns, hinter mir, größer oder kleiner wird. Wenn die Begleitung vorne läuft, sehe ich, wie sie beim Abstieg enteilt, manchmal außer Sichtweite geht und weiß doch, dass sie da ist.
Ich gehe, den Blick meist auf den Weg gerichtet, ohne dass ich über ihn nachdenke, nur wenn es schwierig wird, wenn nasse Wurzeln aus dem Boden ragen, nasser Fels große Schritte erfordert, meldet sich die innere Stimme, ich verlangsame den Schritt und überlege, entscheide, wo ich den Fuß aufsetzte, die Schrittfolge. Geht jemand voraus, hat man Orientierung, das muss für den eigenen Körper aber nicht die beste Lösung für das gestellte Problem sein.
Während des Gehens steht die Zeit still. Will ich die Landschaft, die Weite, ferne Berge, die eigene Bedeutung im Werden des Kosmos genießen, bleibe ich stehen; auf dem Berggipfel ist die Aussicht am schönsten, man kann in alle Richtungen schauen, sich überlegen, wie die Berge heißen, reden, essen, trinken oder einfach nur staunen; mit der Bewegung der Wolken, eines Vogels oder anderer Wanderer, die man in der Nähe oder in der Ferne erkennt, setzt sich die Zeit wieder in Bewegung; die innere Stimme regt sich; meist überblickt man die zurückgelegte Wegstrecke; der in der Zeit durchschrittene Raum präsentiert sich der Vorstellung als ein Stück Vergangenheit; vielleicht schnürte ein ausgesetzter Pfad kurzzeitig das Herz ein und ließ es rasen, was bei mir fast nie vorkommt, weil ich gefährliche Wege meide.
Ich spüre beim Bergaufgehen Energie, die sich entlädt, die Anstrengung, ich schwitze; beim Bergabgehen fühle ich die Anspannung der Muskeln, Müdigkeit in den Beinen, Schmerzen an den Füßen, meist ohne dass es die innere Stimme kommentiert. Es schmerzt, der Weg ist noch weit, ich weiß, dass mich niemand tragen wird, keine Seilbahn, keine Gondel, keine Bushaltestelle in Sicht; wenn ich nicht gehe, komme ich nicht an; die Begleitung marschiert, leidet auch; ich kann ihr nicht helfen, das Unterbewusstsein ordnet die körperlichen Gebrechen ein, nach kurzer Zeit schaltet das Gehirn den Schmerz ab, manchmal blitzt er wieder auf, bevor er abermals abgestellt wird, weil Klagen keinen Sinn macht. Es ist nur eine Blase oder eine Reizung der Sehne und kein Beinbruch.
Wie man hier liest, kann ich beim Wandern keine tiefgreifenden Schätze schürfen wie große Philosophen, Dichter und Denker, vielleicht braucht es dafür einfach zu erwandernde Wege. Das Konzept der ewigen Wiederkehr erschließt sich mir bis heute nicht, ich fliege lieber tief. Auf dem Gipfel eines Berges erkenne ich keine Notwendigkeit darüber nachzudenken, ob und wie wir Menschen ferne Planeten oder Galaxien erreichen, Raum und Zeit in größeren Maßstäben überwinden könnten. Wenn wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erde, unser Sonnensystem und den Kosmos ernst nehmen, wissen wir, dass unser Stern eines Tages verglüht und alles Leben auf der Erde erlischt. Solche Gedanken fallen beim Wandern ebensowenig vom Himmel, wie ich Alltagssorgen über Familie, Haus und Hof wiederkäue wie die Kühe auf der Almweide. In schwierigen Streckenabschnitten ist man besser im Hier und Jetzt. Es geht voran, Schritt für Schritt, um dort anzukommen, wo ich losgegangen bin und doch hat sich nach der Wanderung alles verändert, der eigene Körper, die Mitmenschen, die Natur, die Straße, die Luft, das Wasser des rauschenden Baches.
Der Glaube kann Berge versetzen. Beim Wandern setzen wir einen Fuß vor den anderen, versetzen keine Berge, der Berg bewegt sich unter uns, manchmal schreiten wir darüber hinweg; jede Tour beginnt mit einem kleinen Schritt, das Gefühl der Freiheit begleitet mich beim Gehen, ohne dass es mir bewusst wäre. Das Wandern in den Bergen entlastet das Gehirn, reinigt, spült Unwesentliches hinweg, wohin auch immer. Ich glaube daran, den Gipfel erreichen zu können und wieder heil im Tal anzukommen. Halte ich den Gipfelweg für zu gefährlich, kehre ich um, ohne Enttäuschung; ohne das Gefühl gescheitert zu sein, genieße ich den Rückweg, die unbarmherzige Natur, die uns nicht braucht, obwohl sie uns hervorgebracht hat.


