Auf der Suche nach dem Plot in Puerto de la Cruz, 19.09.2025
- rbr0303
- 21. Sept.
- 5 Min. Lesezeit

Auf der Suche nach dem Plot in Puerto de la Cruz, 19.09.2025
Vielleicht sehnen wir uns nach den großen Geschichten, weil uns das Leben langweilt, weil wir die Routine nicht ertragen, weil uns das Erleben des Außergewöhnlichen zwar außergewöhnlich und interessant macht, wir aber nicht dafür bezahlen wollen, das Risiko scheuen oder wir uns im Leben der Langeweile ganz wohl fühlen.
Während ich auf dem Balkon ein Brot aß und einen Kaffee trank, schweifte mein Blick über das Meer, die Straße, das Café an der Uferpromenade, das Geschehen auf der Uferpromenade. Ein leichter, warmer Wind wehte, die Sonne drängte mühsam durch den Morgendunst, ließ landeinwärts Orotava, das Tal und den Teide wie durch ein mit Milch beschlagenes Glas erkennen.
Morgens ist die Straße, in der wir wohnen, für Lieferwagen gesperrt, die die Geschäfte und Lokale der näheren Umgebung mit Obst, Gemüse, Bier, Eiern und anderen Lebensmitteln und Getränken versorgen. Die Altstadt von Puerto de la Cruz schützt eine riesige Mauer, die auf der Meerseite mit Betonelementen bewehrt ist, vor der tosenden Brandung. Vom Balkon sehe ich manchmal das Wasser aufspritzen, nachdem eine große Welle gegen die Bewehrung gerollt ist. Zwischen der Mauer und der Uferpromenade zieht sich ein 40 Meter breiter Parkplatz. Auf der gepflasterten Uferpromenade stehen in regelmäßigen Abständen Palmen, Bänke, Bäume und Sträucher, aber das Meer ist nicht zu sehen. Einwohner und Touristen nutzen sie zum Joggen oder um auf den Parkplatz zu gelangen. Ansonsten wird sie von Menschen der Straße, einige vermutlich ohne festen Wohnsitz und Leuten genutzt, die auf den Bänken sitzend oder hin- und her gehend auf Kundschaft warten und ihre Geschäfte abwickeln. Ich will sie im folgenden Bewohner der Uferpromenade nennen.
Meine Begleitung schlief noch, als ich mich nach dem Frühstück an den großen Tisch im Wohnzimmer setzte, das Tablet aufklappte, nachdachte, den Essay „ Memes, Reels, Tracks, kurze Bewegtbildsequenzen im digitalen Netz“ fertig schrieb - über Nacht war mir ein Satz eingefallen, den ich unbedingt noch unterbringen musste - und veröffentlichte. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich das passende Bild gefunden hatte. Nachdem wir den vorherigen Tag in Santa Cruz verbracht hatten, wollten wir den heutigen in Puerto de la Cruz verbringen, ohne Plan, ohne jede Vorstellung, was wir tun sollten, herrlich, für mich. Die Frage meiner Begleitung, „was machen wir heute?“, weckte mich aus der Vorfreude.
Wir hatten vor einigen Tage ein nettes Café gefunden, in dem viele Einheimische zu sitzen schienen und das so gut besucht war, dass wir draußen keinen Platz fanden. An diesem Tag hatten wir mehr Glück, wir waren auch sehr spät dran für ein Frühstück. Die Bedienungen sind sehr fix, kaum saßen wir, konnten wir bestellen, wenig später stand der Milchkaffee vor uns. Das Café liegt etwas weiter vom Meer entfernt in der Innenstadt, nur wenige Touristen verirren sich dorthin. Kurz vor Mittag wunderte es nicht, dass an einem Werktag vorwiegend ältere und alte Menschen den Ort besuchten, um mit Nachbarn und Bekannten zu plaudern und das Leben in der Wärme des Südens zu genießen. Ein älterer Herr flüsterte einem Kellner etwas ins Ohr, der kam wenig später zurück und schüttelte dem offensichtlich jung Gebliebenen die Hand.
Wir beschlossen, entlang des Meeres spazieren zu gehen, kamen zum alten Hafen und sahen Menschen in der Blüte ihres Lebens im Meer baden. Gute Idee, wenig später, tat ich es den anderen, zumeist jungen Badegästen gleich, hüpfte von der Hafenmole ins Wasser, und schwamm eine Runde, nachdem ich und meine Begleitung zuvor artig die Leiter benutzt hatten, um vorsichtig ins Wasser zu steigen. Es war angenehm warm, überall hingen die grünen Flaggen schlaff am Mast, die Flut hatte das Hafenbecken gut gefüllt, sodass der Sprung nicht ins Ungewisse erfolgte. Es dauerte eine Weile, bis die Badehose nicht mehr triefte und wir uns in der nahe gelegenen Wohnung umziehen konnten. Neben einer Bar saß ein Deutscher, den Blick auf das Treiben im alten Hafen, die Badenden und promenierenden Touristen gerichtet, mit vielen leeren Bierdosen, Kopfhörer auf den Ohren und redete laut vor sich hin. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass er ins Leere starrte. Keiner hörte ihm zu. Er war ganz allein in der großen Menschenmenge.
Auf dem Weg zu einem Café, das oben auf der Klippe liegt, fielen uns junge Männer auf, die auf Bänken sitzen, und ab und zu mit Kundschaft reden. Einige Bewohner der Uferpromenade vor unserem Haus sausen durch die Altstadt und fragen ab und an nach einer Spende oder man sieht sie auf dem Parkplatz, wie sie Autofahrern freie Plätze signalisieren, die jeder Autofahrer sowieso sieht.
Der Weg vom alten Hafen zum Café auf der Klippe ist weit; wir kamen an einige unbewohnten Gebäuden vorbei, vielleicht verlassene Hotels; Treppen führen hinauf in den Stadtteil auf der Anhöhe; eine der Treppen ist ein beliebtes Instagrammotiv, wie ich abends feststellen konnte; die Aussicht von dort oben auf die Stadt und die schroffe Küstenlinie im Norden raubt einem beim ersten Mal den Atem, mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Und doch weitete sich dabei bisher jedes Mal der Blick auf die eigene Zukunft.
Soweit wir das bisher beobachten konnten, läuft das Leben der Bewohner der Uferpromenade immer nach dem gleichen Schema ab, nach trostlosen, eingefahrenen Routinen. Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, stand ein Auto der lokalen Polizei unweit des Hauses, in dem wir zeitweise wohnen. Abends saßen wir erschöpft und zufrieden auf dem Balkon. Es war schon dunkel. Auf der Uferpromenade sahen wir nur Touristen, keine Geschäftsleute und auch keine der üblichen Bewohner. Wenn man sich kurz vor der Dämmerung auf den Stuhl auf dem Balkon setzt, etwas trinkt und die Wärme genießt, merkt man von einer Minute auf die andere nicht, wie es Nacht wird. So verging der Tag, ohne Plot. Ohne dass wir uns langweilten, ergab sich eine Aktivität aus der anderen.
Die Bewohner der Uferpromenade gingen an diesem Abend vor unserem Balkon aufgeregt auf und ab, im Getränkeladen ein und aus. Ein Mann im Rollstuhl mit nur einem Bein, wird meist von einem freundlichen Helfer geschoben. Kurz vor 23.00 Uhr kam er, sein Freund und ein Dritter Mann aus dem Getränkeladen. Vom Balkon aus sah man, wie die drei vor einem Haus anhielten, sich bückten; ein Feuerzeug flammte für eine Weile auf. Einer der Freunde hielt danach eine Spritze in der Hand; der Rollstuhlfahrer zog etwas hoch, das aussah wie ein Gürtel. Die meisten Passanten gingen vorbei und achteten nicht auf die Szene, wenige schauten kurz hin. Warum sollte es hier anders zugehen als in anderen Städten? Weil die meisten Instagram Posts strahlende Gesichter an wunderschönen Orten der Stadt zeigen?
Ich weiß nicht, wo die Bewohner der Uferpromenade nachts schlafen, vielleicht in verlassenen Gebäuden, vielleicht hat ihnen die Stadt eine Bleibe eingerichtet, vielleicht auf der Straße. Die ein oder andere ihrer Geschichten mag dramatisch verlaufen sein; die meisten von ihnen dürften nicht merken, wie sie abgleiten, so wie wir auf dem Balkon nicht bemerkten, wie der Tag zur Neige ging. In der Nähe des Äquators wird es schneller dunkel als im kalten Norden. Das Leben auf der Straße ist unbarmherzig und nur einen Steinwurf entfernt.


