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Wahre Meisterschaft - Die Verwandlung von Franz Kafka

  • rbr0303
  • 9. Dez.
  • 4 Min. Lesezeit
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Wahre Meisterschaft - Die Verwandlung von Franz Kafka


Etwas besonders gut zu können, in einem Tun Meisterschaft zu erreichen, kann eine große Quelle innerer Ruhe und Zufriedenheit, der Freude sein und geht einher mit dem wohligen Gefühl, einen Wert geschaffen zu haben, der für sich selbst steht. Nicht nur das Tun an sich setzt biochemische Reaktionen in Gang, auch der Genuss des vollendeten Werkes kann eine positive Gefühlsspirale bis hin zur Euphorie in Gang setzen. Und das ist redlich verdient, wenn dadurch niemand zu Schaden kommt, und umso mehr, wenn andere davon profitieren.


Auch wenn es mir nicht vergönnt ist, eine solche Meisterschaft je erreicht zu haben, kann ich den höchsten Grad dieser positiven Gefühlswelt zumindest erahnen, vielleicht in Teilen genießen, wenn ich mir vorstelle, wie sich meine Fähigkeit, Genuss zu empfinden, im Laufe der Jahre verändert hat. Als Kind ist man der Geschmacksexplosionen, die Nahrungsmittel in uns hervorrufen, durch die unendlich vielen Geschmacksknospen im Gaumen und Riechzellen in der Nase hoffnungslos ausgeliefert; der Geschmack von Rosenkohl ist unerträglich, Käse ungenießbar und Spinat ein Anschlag auf die kindliche Seele. Man kommt gar nicht auf den Gedanken, die komplexen Aromen und Geschmackswahrnehmungen herunter zu brechen, zu benennen und so nach und nach schätzen zu lernen.


Neben der Reifung gehört sehr viel Übung und Erfahrung zur Entwicklung des Könnens; eine Meisterin oder einen Meister an der Seite zu haben, ist zwar nicht unabdingbar, aber in den meisten Fällen unerlässlich; beim Wein kommt hinzu, dass man sich die etwas teureren Flaschen leisten können muss. Kauft man den Wein nur aus dem Billigregal und trinkt ihn, entwickeln sich keine Geschmackskenntnisse, keine Genussfähigkeit und die Schatztruhe bleibt verschlossen, selbst wenn man sie vor Augen oder im Keller stehen hat.


Wer sich an den guten Wein, den guten Espresso gewöhnt hat, steht vor einem Dilemma. Der Kuchen im Café schmeckt vorzüglich, der Kaffee aber nicht. Die Begleitung ist vom Kaffee begeistert, aber vom Kuchen enttäuscht. Das ist wohl unvermeidlich. Damit muss man umgehen lernen. Man bringt es nicht auf jedem Gebiet zur Meisterschaft. Das kann gar nicht sein, weil die Übung auf dem einen Gebiet, die Zeit für andere Vorhaben raubt. Rilke kommentierte Werke junger Dichter, die sich an ihn wendeten, höflich wohlwollend, wobei ich nur die überaus lesenswerten „Briefe an einen jungen Dichter“ gelesen habe, in denen er kaum auf die einzelnen Gedichte von Franz Xaver Kappus einging. Das eigene Können öffnet Räume, in neue Sphären der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens vorzudringen. Es dürfte einem leichter fallen, Vorzügliches in anderen Werken zu entdecken.


Meisterschaft und Kennerschaft wirkt auf Mitmenschen bisweilen ehrfurchtgebietend. Viele täuschen Kenntnis nur vor. Marken versprechen dem Käufer u.a., die Lücke zur Kennerschaft zu schließen. Vielleicht gelangt man im Umgang mit wertvollen Markenprodukten auf einen Pfad, der das Innenleben bereichert und zur Kennerschaft hinführt, was den meisten Menschen auf diesem Planeten leider verwehrt bleibt.


Manchmal entwickelt der Meister Dünkel - das wird offensichtlich, wenn wir an so manchen erfolgreichen Künstler denken. Das ist schade und trübt die Wertschätzung, die ihm andere entgegen bringen. Zwar klopft ihm sein Umfeld und Umstehende immer noch so oft, vielleicht sogar viel häufiger auf die Schulter, doch nicht für die Meisterschaft und das Können sondern aus niederen Beweggründen. Bevor der Meister das merkt, ist er längst tot. Doch die meisten Meister leiden nicht unter Dünkel, manche leben so im Werk, streben nach unerreichbarer Perfektion, dass sie ihr Können maßlos unterschätzen.


Ich habe gestern nach langer Zeit „Die Verwandlung“ von Franz Kafka gelesen. Kafka muss am Imposter-Syndrom gelitten haben, obwohl das auch heute nicht als Krankheit oder psychische Dysfunktion anerkannt ist und demnach nicht existiert. Die Erzählung ist vom ersten bis zum letzten Satz perfekt und kann einen ein Leben lang begleiten. In jeder Lebensphase erlaubt sie einen neuen Zugang, schenkt sie einem unerwartete Erkenntnisse und Erlebnisse.


In mir reifte beim Wiederlesen der Gedanke, dass Kafka Gregor mit viel weniger Sympathie beschrieb und ihn weniger als Opfer sah, als ich immer annahm. Bei der „Verwandlung“ handelt es sich um ein Kunstwerk und nicht um eine Aufzeichnung von Kafkas Lebens- oder Leidensgeschichte, auch nicht um eine Abrechnung mit irgendwelchen Verhältnissen, auch wenn Kafka für sein Werk aus dem Leben geschöpft hatte. Die sich verwandelnde Kommunikation und die neu entstehenden Routinen der Protagonisten manifestieren die sich verändernden Familienverhältnisse mit wenigen Pinselstrichen. Das ist große Kunst. Der Wechsel der Erzählperspektive, als Gregor stirbt, erinnert an den phänomenalen Wechsel der Tonart von Moll zu Dur in Maurice Ravels Boléro.


Sicher kann man die Schwester Gregor gegenüber als grausam bezeichnen, als sie sich emanzipiert. Aber sie ist eben auch nicht das, was Gregor in ihr sieht. Kafka schenkt uns mit dem Schluss ein offenes Ende.


„Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.“ Ob es Grete gelingt, sich Gregors Schicksal zu ersparen und sich den Wünschen und Erwartungen der Eltern zu widersetzen, bleibt unserer Phantasie überlassen. Hoffnungsvoll stimmt die von Gregor wahrgenommene, aber aus seiner leidenden Sicht gedeutete offene Rebellion Gretes gegen die Eltern.


Auf dem Weg zur Meisterschaft verwandeln wir uns. Kafka ist das gelungen.


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