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Stadt, Land, Fluss - Kein Kinderspiel - Gestern und 2025

  • rbr0303
  • 21. Mai
  • 7 Min. Lesezeit

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Stadt, Land, Fluss - Kein Kinderspiel - Gestern und 2025


Vor fünfzehn Jahren lag vor uns ein Blatt Papier, wir hielten Bleistift oder Kugelschreiber in der Hand, während wir darauf warteten, bis einer Stopp sagte und ein anderer den Anfangsbuchstaben nannte. Ob Stadt, Land, Fluss heute noch gespielt wird? Inzwischen geht das online über Distanzen, die wir uns, als ich ein Kind war, nicht hätten vorstellen können. Bestimmte überwiegend das Sein mein Bewusstsein? Ändert sich das, während man älter wird? In der Kindheit hat die Phantasie die Oberhand. Da lässt man als Erwachsener, den Kindern bei Stadt, Land, Fluss so manche Wortschöpfung durchgehen. Allein über den Tag verteilt, lebe ich meist nicht im Hier und Jetzt. Auch die öffentliche Meinung geht dem Hier und Jetzt selten auf den Grund. Die braust in den Medien und in unserem Geschwätz auf und das blubbert nur so lange vor sich hin, wie es die Aufmerksamkeit erregt, in der Stadt auf andere Weise als auf dem Land, weil die Umgebung maßgeblich unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst.


Das Landleben kann man vielleicht nur in einem kleinen Dorf, umgeben von Natur, weitab der nächst größeren Stadt erleben, dort, wo es Stunden dauert, bis man eine Ansiedlung von Menschen, Geschäfte, Bibliotheken, Museen, vielleicht Theater und Kinos erreicht. Gras, Bäume, Wiesen, Felder, Flüsse, Seen und Berge, das Meer, Landschaften bewegen unsere Seele wohltuend. Vorstellungen vom Landleben sind in der heutigen Zeit bestenfalls romantisch, manchmal überheblich und doof, eine virtuelle Realität wie wir sie in Filmen, Videospielen, Dokumentarfilmen oder Fernsehserien kennenlernen, eine Realität, die den klaren Blick auf Natur, Häuser und Menschen verbaut.


In der Stadt leben viel mehr Menschen mit den unterschiedlichsten Interessen und die Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu finden und zu treffen, sind ungleich größer, zumindest in der Theorie. Je nachdem, wo man wohnt, braucht man zu bestimmten Tageszeiten kein Auto. Hat man einen Platz zum Leben und seine Blase gefunden, wird die Stadt zum Dorf, man fühlt sich wohl, dafür kehren die sozialen Zwänge zurück. Aber die Stadt ist über regionale und überregionale Gleise mit Flughäfen und anderen Städten verbunden, wie wenn man am Ufer eines Flusses stehe, wärmt das Gefühl, dass man jederzeit an einen anderen Ort reisen könnte. Außerdem lockt die Abwechslung. Die meisten Stadtteile sind schäbig, dort muss man die Schönheit in den Menschen suchen.


In der Stadt ist man anderen Gefahren ausgesetzt als auf dem Dorf. Revolutionen keimen in der Peripherie und nicht in den großen Städten, die sind nur der Schauplatz für deren Exzesse. Es braucht zum Glück nur wenige Jahre, um ein Stadtmensch zu werden.


Wir sperren die Natur aus, stecken sie in einen Topf, manche kultivieren Nutzpflanzen auf dem Balkon und halten so den Kontakt zur Erde, zur Tier- und Pflanzenwelt, die meisten von uns haben ihn verloren, wissen nicht oder nicht mehr, wo die Kartoffel, die Tomate, die Bohnen, das Ei, Kuh-, Kokos- oder Hafermilch, das Steak oder der Braten, das Tofuschnitzel oder der Schokoriegel herkommt, selbst auf dem Land nicht, welcher Aufwand damit verbunden ist, das Essen auf dem Teller oder den Kaffee, den Tee oder die Milch in der Tasse zu sehen, wir kennen die Preise von Lebensmitteln und eher den CO2-Fußabdruck als abstrakte Größe dessen, was wir konsumieren, als dass wir uns den damit verbundenen Aufwand, die Arbeit beim Essen und Trinken vor Augen führen. Wir müssen Komplexität ausblenden, können nicht alles, was wesentlich ist, im Blick behalten. Ein umfangreiches Wissen auf den Gebieten Flora und Fauna verschafft beim Spiel Stadt, Land, Fluss Vorteile, sofern man Pflanzen und Tiere als Kategorie aufgenommen hat.


Ich schaue gerne Sendungen an, in der Menschen in der Wildnis ausgesetzt werden, scheinbar ums Überleben kämpfen, weiß, dass ein Team im Hintergrund filmt, Anweisungen gibt, dass das meiste gestellt ist. Manchmal lassen sich Menschen alleine auf einer Insel aussetzen und filmen ihren Überlebenskampf, das Video geht auf Sendung, wenn das Abenteuer gut ausgegangen ist. Das Zuschauen reicht mir, ich will das nicht selbst erleben, überlasse das den Avataren, obwohl ich gerne in der Natur bin und die Elemente am eigenen Leib erfahre.


Weil wir die lebendige Natur aussperren, sie als Objekt, als Mittel zum Zweck sehen, verwenden, bevölkern wir die Erde in so großer Zahl. Deswegen gibt es so viele Städte und Flüsse, deren Namen wir kennen könnten. Wie lange noch? Die lebendige Natur ist brutal und grausam, wenn man sie nüchtern mit menschlichen Augen betrachtet, sie ist weder gut noch böse, wenn man mit etwas mehr Abstand darauf blickt. Wir sind eben nur ein Tier unter vielen mit einer Sprache, die ausgefeilter sein mag, sich immer weiter vortastet, um Worte zu finden für Neues, Unbekanntes und uns Gedichte für das Unsagbare schenken zu können. Aber wer weiß schon, was der Gesang der Nachtigall alles ausdrückt und wie er sich im Verlauf der vergangenen 200.000 Jahre entwickelt hat?


Alles Lebendige will leben und das Leben weitergeben, das mag nicht jeder einzelne so empfinden, auf die Menschheit bezogen, stimmt die Aussage, einige Menschen streben nach dem ewigen irdischen Leben, streben danach, das Fleisch frisch zu halten oder ihr Bewusstsein in künstliche Welten hochzuladen, wo es auf ewig im virtuellen Raum weiterleben soll. Wie romantisch! Ohne das Unterbewusstsein, ohne ein phänomenales Selbstmodell würde das keinen Sinn machen. Abgesehen von der derzeit nicht möglichen technischen Realisierbarkeit solcher Vorhaben sind das völlig irre Vorstellungen, auch wenn dahingehende Gedankenexperimente gute Laune in mir verbreiten!


Wenn man sich zehn Stunden am Tag der Aufzucht von Nutzpflanzen widmet, nach acht Stunden Unkraut jäten im Kartoffelfeld, in sengender Hitze, oder jeden Morgen, sieben Tage die Woche um fünf Uhr aufsteht, um das Vieh zu füttern und den Stall auszumisten, wabern Überlegungen, Unsterblichkeit technisch zu erreichen, selten im Bewusstsein herum, man schwitzt, die Schwielen an den Händen schwellen an, man hat keine Lust mehr auf Stadt, Land, Fluss. Das war vor nicht allzu langer Zeit der Alltag auf dem Land. Lesen und Schreiben konnten die wenigsten, das blieb Klerus und Adel vorbehalten. Mit dem technischen Fortschritt sank die Zahl der Arbeitskräfte, die die Erzeugung der Lebensmittel erforderte, die Fabriken schluckten die in die Stadt drängenden Menschen. Mittelalterliche Städte, die meist an Flüssen lagen, explodierten wie das Wissen der Menschheit. Viele neue Städte sprossen aus dem Boden. Stadt, Land, Fluss zu spielen, wurde immer einfacher.


Als ich ein Kind war, stanken die Flüsse, tote Fische schwammen auf der Wasseroberfläche, Tiere standen keine mehr in den Ställen, wir pflanzten Kartoffeln, die Musik kam schon aus dem Radio und musste nicht mehr durch Singen oder das Spielen von Musikinstrumenten selbst erschaffen werden, voluminöse Fernsehgeräte im Wohnzimmer boten anfangs zwei, später drei Sender zu Auswahl. Das Programm wählten die Programmverantwortlichen der Sender aus. Es war für Bewohner von Stadt und Land gleich. In der Stadt gab es Kinos, auf dem Land Filmvorführer in größeren Gaststätten. Autos und Busse fuhren in die Stadt und wieder zurück. Das Gefühl von Raum und Zeit veränderte sich. Großräume entstanden, die Welt wurde kleiner.


Junge Menschen geben sich bereitwillig neuen Technologien hin, entwickeln sie, entwickeln sie weiter, Ältere interessiert das weniger, was Freiräume für die Jungen schafft.


Als ich ein Kind war, hatten die Autos keine Knautschzone, keine Sicherheitsgurte hinten, keine Airbags, die Sicherheitsgurte vorne musste man, wie beim Fahrradhelm oder im Flugzeug manuell auf die richtige Länge einstellen, es gab keine Gurtaufroller, das war so ein Gefummel, dass sich viele gar nicht anschnallten. Klimaanlagen brauchte man nicht, gab es auch nicht, man kurbelte die Fenster herunter und holte sich im Sommer Mittelohrentzündungen, im Winter war die Heizung selten so warm, dass man auf die Winterjacke hätte verzichten können. Das Sein bestimmte während der Autofahrt das Bewusstsein. Fliegen war für Normalsterbliche Luxus, die Züge vergleichsweise langsam unterwegs. Wir reisten mit dem eigenen Auto in die Nachbarländer, meist in die Berge, weil das Meer viel zu weit weg war, anfangs einmal im Jahr.


Radiorecorder erlaubten, die geliebten Songs, die im Radio liefen, auf Kassetten aufzunehmen, wenn man sich die Schallplatten oder den Plattenspieler nicht leisten konnte, Stereoanlage mit Plattenspieler, Radio und Kassettenrekorder ermöglichten in einem Prozess, der sich über Stunden, manchmal Tage hinzog, die Zusammenstellung einer 45-Minuten Kassette mit den besten Liedern diverser Platten und Radioaufnahmen für eine Party oder als Geschenk. Nach häufigem Abspielen leierte das Tonband aus, es verhedderte sich im Kassettenrekorder, der Bandsalat musste manuell mit dem Finger zurückgedreht werden, falls das Band nicht gerissen oder anderweitig zerstört war, konnte die Kassette für einen weiteren Durchlauf gerettet werden. Die Walkmans kamen auf den Markt, kleine, tragbare Geräte mit Kopfhörern, kaum größer als eine Kassette, mit denen man seine Musik, sein Gefühlsuniversum überall hin mitnehmen und wann immer man wollte, hören und nachempfinden konnte.


Telefonieren war teuer. Die Telefongesellschaft hatte ein Monopol. Es gab meist nur ein Telefon im Haushalt, das Kabel kurz, der Telefonhörer groß und schwer wir der Unterschenkelknochen eines Rindviehs, anfangs mit Wählscheibe, jeder konnte hören, was man sagte, das vergaß man natürlich während des Telefonats schnell. Ortsgespräche waren erschwinglich, Ferngespräche teuer, Gespräche ins Ausland oder vom Ausland zu den Verwandten nach Hause kompliziert und nahezu unbezahlbar. Man hat sich grundsätzlich nicht gesehen, wenn man außer Seh- und Hörweite mit jemandem sprechen wollte.


Die Digitalisierung setzte spielerisch ein, als ich in der Schule war. Der Taschenrechner löste den Rechenschieber ab. Die ersten Computer waren große Kisten. Wenn man sie einschaltete, war der separate Bildschirm schwarz und eine Eingabezeile für Befehle erschien. Die Befehle musste man kennen, die Anwendungsmöglichkeiten waren begrenzt, mit Spielen fing alles an, man programmierte selbst. Apple setzte mit der bedienerfreundlichen Benutzeroberfläche und den ersten Apps einen Trend, Textverarbeitungsprogramme, Tabellenkalkulationen und Zeichenprogramme kamen auf den Markt. Die Hardware wurde jedes Jahr leistungsfähiger. Dann ging alles ganz schnell.


Das Internet beflügelte unsere Phantasie. Die Überwindung von Raum in Lichtgeschwindigkeit wurde Realität, mit Texten fing es an, die Übertragung von Bildern dauerte anfangs eine halbe Ewigkeit, aber wir wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis wir neben der uns geliebten Musik, auch unser eigenes Fernsehprogramm zusammenstellen und auf unseren tragbaren Endgeräten würden abspielen können. Wir wären nicht länger auf das Programm der Verantwortlichen in den Sender limitiert. Information würde grenzenlos verfügbar sein, egal wo auf der Welt man sich gerade befände. Über die Folgen eines unüberschaubaren Angebots an Content, der Qual der Wahl, machten wir uns ebenso wenig Gedanken wie über Monopole und die neuen Möglichkeiten weniger mächtiger Menschen, gesellschaftliche Kohärenz zu erzeugen. Umwälzende Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die wirtschaftlichen Potenziale waren abzusehen. Das meiste, was das kreative Potenzial der Menschheit aus der digitalen Goldgrube bisher geschöpft hat, konnte ich mir in der Anfangszeit der damit verbundenen Umwälzung nicht vorstellen, auch nicht die Auswirkungen auf das Spiel Stadt, Land, Fluss.   


Die Ideenwelt formte unter unseren Augen die Wirklichkeit, ohne dass sie uns dramatisch veränderte. Bedürfnisse, Triebe, Begierden und Wünsche blieben uns erhalten, auch wie wir Probleme lösen, wie wir uns unseren Mitmenschen gegenüber verhalten, hängt viel weniger von wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Errungenschaften ab, als wir glauben mögen, und das obwohl sich die Ausgestaltung des Lebens dramatisch gewandelt hat. Ich rege mich immer noch auf, wenn ich bei Stadt, Land, Fluss verliere. Der Abstand zwischen Stadt und Land ist zusammengeschrumpft, Städte und Länder dazugekommen, die Flüsse ein bisschen sauberer geworden. Wir können Stadt, Land, Fluss online spielen, uns auf das Spiel viel besser vorbereiten, werden besser, weil wir an vielen Orten mit ausgefallenen Anfangsbuchstaben schon waren - und trotzdem rechne ich mir keine Chance aus, gegen eine künstliche Intelligenz zu gewinnen. Ob das Spiel inzwischen aus der Mode gekommen ist, ich weiß es nicht.

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