top of page

Sprachspiele

  • rbr0303
  • 4. Sept.
  • 4 Min. Lesezeit
ree

Sprachspiele


Sprache ist ein weites Feld, dem sich zurecht viele akademische Disziplinen widmen. Das kann mich aber nicht davon abhalten, über Sprache unbeschwert und spielerisch nachzudenken.


Jede Wissenschaft entwickelt und kultiviert ihre eigene Sprache. Ohne die Wissenschaftssprachen mitzuzählen, unterhalten sich Menschen in aller Welt in über 7.000 Sprachen. Menschen schreiben und lesen seit etwas über 3.000 Jahren. Wird das bald nur noch eine Minderheit sein, wird das die Minderheit sein, die die Mehrheit kontrolliert und beherrscht? Welche sprachlichen Techniken muss man in nicht allzu ferner Zukunft in Wort und Schrift beherrschen?


Noch bevor sich bewusstes Erleben oder überhaupt Erleben in Erinnerung an Bilder, Töne, Bewegungen, Geschmack und Geruch verwandelt, beginnen wir, die uns umgebenden Dinge im Zusammenspiel mit unseren Nächsten mit Worten zu bezeichnen, ermuntert vom Lächeln und Lob der Eltern, Großeltern, Erzieherinnen und Erzieher oder der Geschwister. Wir fangen an, zu brabbeln und zu plappern mit einem Gehirn, das nicht auch nur annähernd an das zukünftige Potenzial heranreicht. Wie freuen sich Eltern und Verwandte, wenn die Kleine Sätze aus zwei Worten bildet. Die uns umgebenden Erwachsenen oder größere Geschwister korrigieren, bis wir die Konventionen der jeweiligen Sprache zu deren Zufriedenheit einhalten. Das Sprechen entwickelt sich mit der Erweiterung unseres Lebenshorizonts und unseres Gehirns, immer im Austausch mit unseren Mitmenschen und nur zu diesem Zweck, ein anderer fällt mir zumindest gerade nicht ein. Friert das geschriebene Wort das bewusste Erleben, die Erinnerung ein?


Es ist noch nicht lange her, da waren die meisten Menschen in der westlichen Hemisphäre Analphabeten, obwohl es die Schriftsprache schon Jahrtausende gibt. Die Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert ließ die Anzahl an Menschen, die lesen und schreiben konnten, anwachsen, eine großflächige Alphabetisierung setze aber erst im 19. Jahrhundert ein. Viele kleine Kinder kämpfen mit dem Schreiben- und Lesenlernen. Obwohl die bewussten Erinnerungen mit dem dritten oder vierten Lebensjahr einsetzen, will mir nicht einfallen, ob ich Lesen und Schreiben leicht oder mit Mühe oder gar Widerwillen lernte. Ich gehe davon aus, dass mich die Bilder im Buch mehr als die geschriebenen Worte faszinierten. Mit dem Stift auf Papier Buchstaben und Wörter zu kritzeln, muss einem Kleinkind komisch vorkommen, wie so vieles, was die Umwelt von ihm erwartet. Kinder, die das mit Eifer und Freude tun, leicht lesen und schreiben lernen, lassen auf Begabung und Intelligenz schließen. Kinder, die in einem bildungsfernen Umfeld aufwachsen, sind benachteiligt, denn nicht jede Fähigkeit und Leistung resultiert aus dem genetischen Code.


Sprache ist zunächst Mittel zum Zweck, nie nur Spiel, aber immer Sprachspiel. Mit einem Hammer kann man keine Schraube in die Wand drehen, mit Worten schon, wenn die äußeren Umstände das zulassen. Sprache macht vor allem in einem kommunikativen, in einem gesellschaftlichen Umfeld Sinn. Wenn wir nachdenken, unterhalten wir uns zwar mit uns selbst, kreisen erst einmal in unserer eigenen Welt, sind dabei aber nie allein, weil wir die oder den anderen mitdenken; andere sind bei uns, weil unser Denken auf den gelernten Wörtern, Sätzen und Glaubensbekenntnissen aufbaut und sei es nur, indem wir in Abgrenzung oder im Widerspruch zu anderen eigene Sätze formulieren.



Erst verändert sich die Welt, genauer formuliert das, was unterschieden und bezeichnet werden soll, dann die Sprache. Menschen schaffen neue Wörter für neue Dinge. Der tägliche Gebrauch entscheidet darüber, wie sich die Sprache entwickelt. Sprachen, die nicht mehr gesprochen, nicht gelesen, nicht geschrieben werden, sterben aus. Wiederholt eine gesellschaftlich relevante Gruppe Fehler nur oft genug in gleicher Weise, entsteht daraus eine neue Sprachkonvention; der Fehler verschwindet, der ursprünglich richtige Ausdruck, die richtige Schreib- oder Sprechweise wird im Laufe der Zeit falsch. Sprachhüter versuchen, diesen Prozess mehr oder weniger erfolgreich zu steuern.


Ohne die Sprache zu sprechen oder jemanden zu kennen, der die offizielle Sprache beherrscht und mit dem man sich verständigen kann, ist Teilhabe in den meisten gesellschaftlichen Kontexten unmöglich.


Sprache ist vage. Das macht sie zu einem nahezu unerschöpflichen Ausdrucksmittel von Gefühlen, von Gedanken, der Seele, bringt im empfänglichen Mitmenschen Saiten zum Schwingen, erweitert den Erlebnishorizont; das gesprochene oder geschriebene Wort wird Plattform für gesellschaftliches Miteinander, selbst wenn es dabei in den Hintergrund tritt und vielleicht ganz verschwindet wie das Eis im Cocktailglas.


Sprache ist vieldeutig, manchmal herablassend, manchmal witzig, selbst im sozialen Kontext oft Selbstbefriedigung, manchmal aufrichtig, hässlich, hölzern, heiter, verständlich, unverständlich, missverständlich, oberflächlich, tiefgründig, leserlich, unleserlich, bösartig, grausam, betörend oder verstörend schön. Die Gegenstände auf dem Tisch können gesehen und befühlt, es kann daran geschnuppert und geschmeckt werden; nur die Gegenstände auf dem Tisch sind für alle gleich. Legt jemand eine Uhr auf den Tisch, liegt für den einen ein Uhr auf dem Tisch, für den anderen eine Rolex. Das ist banal. Das weiß ich. Trotzdem ist mir das in der sozialen Interaktion selten bewusst.


Sokrates hinterließ keine Texte, kein geschriebenes Wort. Wer schreibt, der bleibt nicht immer; auch Gedanken derer, die nicht schreiben, können Tausende von Jahren Wirkung entfalten, wenn sie jemand aufschreibt oder eine Generation der nächsten - vielleicht in Märchen, Legenden oder Liedern - mündlich überliefert. Die meisten niedergeschriebenen Worte vergehen, wie das Leben den Leib verlässt. Was gesagt oder geschrieben wurde, hat das Potenzial, in Mitmenschen oder Nachkommen Wirkung zu entfalten. Das hat ein gebautes Haus, ein zusammen gezimmerter Stuhl auch.


Gesprochene und geschriebene Sprache ist ungenau. Mathematik ist präzise, beschreibt aber nicht die Lebenswelt sondern bestenfalls Ausschnitte davon in Form von Modellen. Kein Modell bildet auch nur Ausschnitte der Lebenswelt präzise ab. Die Voraussagen der Modelle werden direkt in natürliche Sprache übersetzt oder resultieren in Phänomenen, die in natürlicher Sprache ausgedrückt werden. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Large Language Model ist die natürliche Sprache. Füttern wir Künstliche Intelligenzen mit Daten, die unsere Welt widerspiegeln, ihr entsprechen oder mit unseren unzulänglichen Wahrnehmungen derselben?


Ist die menschliche Sprache ausgefeilter als die anderer Tiere? Viele menschliche Sprachen kennen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, kennen den Begriff der Zeit, des Raumes, der Bewegung im Raum, des Zerfalls, der Geburt und des Todes, einen Begriff für den Zustand dazwischen - das Leben. Kleine Kinder können mit diesen Begriffen nichts anfangen. Worte machen Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig, die Vergangenheit mit Worten aus der Vergangenheit; Worte, die die Zukunft ausmalen, wurden in der Vergangenheit niedergeschrieben, wenn wir sie lesen.


Edelmetalle und Edelsteine sind kostbar, weil sie selten sind und viele Menschen sie begehren. Unter welchen Bedingungen werden Worte kostbar?

Teilen Sie Ihre Gedanken mit uns

© 2024 The Essay Collective. Alle Rechte vorbehalten.

bottom of page