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Nichtstun

  • rbr0303
  • vor 7 Tagen
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Nichtstun


Seit Jahrtausenden beschäftigt sich die Menschheit mit dem Nichtstun aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Wenn man sich dem Thema nähern will, lohnt ein Blick in die Bücherregale von der Antike bis in die heutige Zeit und - es ist unausweichlich - in den Mythen- und Märchenfundus der digitalen Welt. Doch warum sollte man das überhaupt tun? Warum sollte der Mensch ein gesundes, persönliches Verhältnis zum Nichtstun entwickeln? Stellen wir eine andere Frage? Warum sollten wir Dinge tun, die Maschinen und Roboter effizienter erledigen?


Der Einsatz von Robotern und künstlichen Maschinen ist zuallererst ein ökonomischer Vorgang. Solange die menschliche Arbeitskraft günstiger ist oder der Roboter oder die künstliche Maschine nicht in der Lage ist, menschliche Geschicklichkeit bis hin zur Kunstfertigkeit zu erreichen bzw. ein Mindestmaß an menschlichen Zügen vorzugaukeln, wird der Entscheider, sei es der Unternehmensvertreter, das Kollektiv der Werktätigen oder der Diktator oder wer auch immer den abhängigen Menschen im Austausch für eine Gegenleistung beauftragen oder die Tätigkeit selbst ausführen.


Produktivitätsfortschritt entsteht, indem für die Herstellung eines Gutes oder einer Leistung weniger Ressourcen als bisher verbraucht werden. Die entscheidende Ressource war bis heute die menschliche Arbeitskraft, sei es in Form von Muskelkraft oder in Form menschlicher Intelligenz, wobei wir in den letzten beiden Jahrhunderten eine deutliche Verschiebung zugunsten der menschlichen Intelligenz feststellen können. Doch wir beobachten gerade einen Wandel hin zu einer wachsenden Bedeutung von Rohstoffen und Energie, die mit der zunehmenden Automatisierung einhergeht. Wird weniger menschliche Lebenszeit für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse benötigt, entsteht freie Zeit, zumindest der Theorie nach.


In der Antike hielten sich die Wohlhabenden und Reichen Sklaven. Im Krieg bezwungene Volksgruppen wurden versklavt. Kinder von Sklaven teilten das Schicksal der Eltern. Das Mittelalter kannte die Leibeigenschaft. Es entstanden Hierarchien von Tätigkeiten, die Klassen zugeordnet werden konnten. Im Zuge des technischen Fortschritts entwickelten sich neue Tätigkeiten, neue Abhängigkeiten und neue Klassen. Leibeigenschaft und Versklavung machten keinen Sinn mehr.


Ein wesentlicher Grund für den Sezessionskrieg in den USA liegt in den unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in den Staaten des Nordens und denen des Südens, die unter anderem in der Haltung gegenüber der Sklaverei Ausdruck fand. Im industriellen Norden machte die Sklaverei keinen Sinn, sie war obsolet und schaffte damit in der gesellschaftlichen Mitte Raum, das Barbarische, das Menschenverachtende in dieser unleidigen, sozialen Praxis zu sehen und zu benennen.


Das Überleben in der Natur ist hart, mit anstrengenden Tätigkeiten und einer großen Abhängigkeit von der natürlichen Umgebung verbunden. Sklaverei, Leibeigentum und die industrielle Revolution schaffte Eliten geschützten Raum, Freiraum, freie Zeit, Zeit fürs Nichtstun, Muße und Musen. Sklaven und Leibeigene waren gezwungen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. Die Sklavenhalter bestimmten, wann nichts getan werden musste. Gestohlenes Nichtstun wurde als Faulenzen gewertet und sanktioniert. Aber ich weiß viel zu wenig über die Geschichte der Sklaverei in unserem Kulturkreis und habe darüber auch nicht ausreichend recherchiert, als dass ich mir ein qualifiziertes Urteil erlauben dürfte. Das Leben Epiktets ist nur fragmentarisch überliefert. Es heißt, dass er bereits als Sklave bei dem Philosophen Gaius Musonius Rufus studiert habe, also Zeit dafür gehabt haben musste. Viele Sklavenhalter würden das Studium eines Sklaven als Faulenzen bezeichnen, es sei denn der Sklave diente als Lehrer für die Kinder des Sklavenhalters.


Faulenzen ist eine Bewertung des Nichtstuns von Teilen der Gesellschaft. Mit der Bemerkung „Ich faulenze“ setze ich mich über eine mögliche, gesellschaftliche Bewertung meines gegenwärtigen Tuns hinweg; es sagt noch nichts darüber aus, was ich gerade tue, wenn ich nichts tue. Das Nichtstun ist ein individueller Vorgang. Was für Außenstehende aussieht wie Nichtstun oder Faulenzen, kann angestrengtes Nachdenken mit einem bestimmten Ziel, Tagträumen, Grübeln, autogenes Training, Meditieren, Scrollen auf dem Smartphone, Ausruhen, Erschöpfung, Burnout, Niedergeschlagenheit, Rausch, Erholung von einem Rauschzustand und vieles Mehr sein. Voraussetzung ist die Freiheit von äußerem Zwang, die Epiktet für das Studium der Philosophie und die Entwicklung seiner eigenen Gedanken nutzte, zum Segen seiner Schüler und den Lesern seiner Lehren, Gedanken, die Schüler an seiner statt aufgeschrieben und damit überliefert haben.


Was Nichtstun für einen bedeutet, muss jeder selbst herausfinden. Ich habe vor Kurzem versucht, zehn Minuten lang nichts zu tun. Es fiel mir nicht leicht. Mir ist äußerst selten langweilig; ständig denke ich über etwas nach, greife zu einem Buch und lese oder schreibe; greife zum Smartphone, um zu chatten, zum Tablet, um Nachrichten oder meiner Meinung nach Wissenswertes zu erfahren; schaue Videos, manchmal doofe, wobei ich behaupten würde, dass meine Aufmerksamkeitsspanne die eines Fisches weit übersteigt - diese Angeberei sei mir an dieser Stelle gestattet. Still auf dem Stuhl zu sitzen und zehn Minuten nichts zu tun, ohne dabei auf eine Meditationspraxis oder eine andere gesellschaftlich diskutierte und akzeptierte Übung zurückzugreifen, empfand ich als herausfordernd. Ich will nicht weiter darauf eingehen, was ich dabei erlebt habe und lege der geneigten Leserin, dem geneigten Leser die Übung nahe, falls sie oder er nicht selbst schon Erfahrungen damit gesammelt hat. Ich will nur so viel verraten, es passierte viel. Jetzt weiß ich, wo ich stehe.


Neurowissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass der Mensch Phasen der geistigen Ruhe braucht. Das kann ich nachvollziehen. Unser Gehirn arbeitet hauptsächlich im Unbewussten, im Schlaf sowieso, aber auch während wir wachen. Wir alle spüren biologische Wellen in uns, Energie-, Erregungszustände kommen und gehen. Sollte das Nichtstun nun in eine Phase eines niedrigen Energiezustandes fallen, also praktiziert werden, wenn wir müde sind? Das wäre schlicht Ausruhen. Nichtstun sollte man im Vollbesitz seiner Kräfte üben. Wann und wie wir nichts tun, entscheidet darüber, welchen Raum wir betreten. Zum Nichtstun verdammt zu sein, führt häufig ins Grübeln. Darüber habe ich bereits im Rahmen eines anderen Essays geschrieben. Das Grübeln führt allenfalls in eine Abwärtsspirale, die nicht im Nichts endet, sondern selbstzerstörerisch wirkt.


In frei zur Verfügung stehender Zeit begegnen viele der Langeweile. Die halten die wenigsten aus. Oder wir wollen unserem Gehirn eine kurze Pause gönnen. Vor einigen Jahren schalteten wir den Fernseher ein und glotzten; heute greifen wir zum Smartphone, Tablet oder zur Spielekonsole, suchen die neue Sensation, bekommen austauschbare Information, die einem Rauschen, einem Rausch gleichkommt, der die Sinne betäubt und kommen nicht mehr davon los; wir übergeben unser Bewusstsein unbekannten Mächten. Aus Erfahrung weiß ich: Das Nichtstun halten wir nicht so lange aus wie das Starren auf den Bildschirm.


Im Nichtstun entsteht etwas in uns; es entsteht etwas Konstruktives, über dessen Wert im Nachhinein natürlich gestritten werden darf. Im Anfang war das Wort.


Nachdenken fällt uns leichter im analogen Raum und beim Lesen des geschriebenen Wortes. Wenn wir zu uns finden wollen, brauchen wir freie Zeit in einem geschützten Raum. Müssen wir uns vor dem Nichtstun fürchten? Mein Selbstversuch war es wert.

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