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Liebe und andere kollektive Gefühlswelten

  • rbr0303
  • vor 14 Stunden
  • 4 Min. Lesezeit
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Über die Liebe und andere kollektive Gefühlswelten


Geht das Wort der Liebe voraus? Liest man Niklas Luhmanns Buch „Liebe als Passion“ könnte man den Eindruck gewinnen, dass Worte die Liebe zwischen Mann und Frau wesentlich konstituieren.


Welchen Einfluss Gelesenes oder vielmehr Gehörtes und Gesehenes auf das Denken des Einzelnen ausübt, können wir spüren. Warum Gesehenes und Gehörtes tiefer und nachhaltiger auf uns wirkt, ist kein Geheimnis; es spricht unser limbisches System viel intensiver an.


Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wie bringen soziale Konstellationen, in denen wir mitwirken, kollektive Gefühlswelten hervor, wie kann man diese fassen, messen und wie wirken sie auf den Einzelnen zurück? Sicher gibt es hierzu jede Menge Studien, auf die ich leider keinen Zugriff habe. Ich kenne weder Artikel in Zeitungen noch in Zeitschriften, die obige Fragen beantworten oder ich kann mich gerade nicht daran erinnern, sie gelesen zu haben. Wir machen tagtäglich Erfahrungen in sozialen Konstellationen: mir ist allerdings äußerst selten bewusst, dass ich Gefühle entwickle, die nicht meinem Innersten entsprechen und entspringen, sondern die ich aus sozialen Systemen unreflektiert übernommen habe; und dennoch ist das wahrscheinlich.


Auf Konzerten, auf Demonstrationen, einer gelungenen Party, im Fußballstadion oder bei anderen sportlichen Großveranstaltungen können die meisten von uns erleben, was es heißt, emotionale Selbstbestimmung aufzugeben. Was ist das für ein schönes Gefühl, im Kollektiv aufzugehen, wie ein Rausch! Der Rausch kann süchtig machen und dann ist es um einen geschehen. Unbemerkt hat man eine neue emotionale Heimat gefunden. Wie schön, dass mir immer nur bei anderen auffällt, wenn sie einer kollektiven Gefühlswelt erlegen sind.


Unsere Zweierbeziehungen sind das kleinste soziale System, über dessen emotionales Befinden wir nachdenken können. Niklas Luhmann beobachtet anhand der Literatur die Spielarten der Liebe als symbolischen Code, der das Unwahrscheinliche, die Liebe zwischen Mann und Frau, ins Wahrscheinliche steigert. (Hätten Romane in der Vergangenheit die gleichgeschlechtliche Liebe ausreichend reflektiert, hätte er diese in seine Betrachtungen sicher aufgenommen.) Der Text nimmt Liebe nicht als Gefühl in den Fokus. Die Gefühlswelt spielt hier keine oder nur am Rande eine Rolle. Luhmann untersucht anhand einer Analyse der Kommunikation zwischen „Liebenden“, wie sich die Liebesbeziehung in den letzten 300 Jahren entwickelt hat und fragt, wie der Intimcode die Liebe heute konstituiert. So hängt die Liebesbeziehung maßgeblich von den gesellschaftlichen Verhältnissen, von den Individuen und damit auch dem jeweils herrschenden Ideengut ab, das auf die ein oder andere Weise Niederschlag im Bewusstsein der Individuen findet.


Ich würde ergänzen wollen, dass Individuen einen evolutionären und einen durch Erfahrung gespeisten persönlichen Gefühlsvorrat mitbringen, der jeder und jedem eigen ist, und der sich von einem kollektiven Gefühlsvorrat der Liebe, der sich von Epoche zu Epoche ändert, unterscheiden mag, vielleicht damit kollidiert. In diesem Spannungsfeld versuchen wir uns zurechtzufinden. Inwieweit Luhmanns Werk „Liebe als Passion“ diesen kollektiven Liebesvorrat der jeweiligen Epoche umfassend beschreibt, konnte ich in Anbetracht meiner beschränkten intellektuellen Fähigkeiten beim ersten Lesen nicht so beurteilen, dass sich ein vollumfängliches Glücksgefühl des Verstehens eingestellt hätte.


Und dennoch: Warum nicht einen Text lesen, der die Elektronen in höhere Umlaufbahnen hebt, in der Hoffnung, dass sie beim Zurückfallen auf ein niedrigeres Energieniveau das eigene Denken ausleuchten und dadurch der ein oder andere Gedanke klarer glüht. Doch das gelingt nicht immer. Manchmal verlassen die Elektronen den eigenen Orbit und hinterlassen eine aufgeladene Stimmung. Einige Perlen habe ich bereits beim ersten Lesen in Luhmanns Werk entdeckt.


In der Zweierbeziehung entsteht über den persönlichen und den kollektiven Gefühlsvorrat hinaus ein dritter nur den beiden Individuen gemeinsamer, der sich vom persönlichen und vom kollektiven Gefühlsvorrat, wie er in Seifenopern, romantischen Filmen, Büchern Magazinen usw. zum Ausdruck kommt, unterscheidet. In den Medien, in Gesprächen mit Freundinnen und Freunden oder in der edlen Liebeslyrik werden nicht nur Worte, Bilder und Bildsequenzen transportiert, sondern eben auch Gefühle. Über diese unterschiedlichen Welten sucht man meist erst dann Klarheit zu erlangen, wenn es schon zu spät ist.


Erst nach größeren Unfällen und Katastrophen sucht die Gesellschaft in wissenschaftlichen Studien nach Ursachen, fragt, wie es dazu kommen konnte. Leider steht allzu oft nur die Schuldfrage im Fokus und Schuld wird meist personifiziert. Dann ist man fertig, beziehungsweise das öffentliche Interesse befriedigt. Mag das ein Grund sein, weshalb sich Katastrophen, Liebeskatastrophen eingeschlossen, häufig wiederholen?


Oder vergesse ich den blinden Fleck des Beobachters in meinen Überlegungen, sind wir dem Unheil hilflos ausgeliefert? Können wir uns beobachten, während wir fühlen? Wir können beobachten, was wir fühlen, doch dann fühlen wir nicht. Was kann ein System beobachten, während es fühlt, wie beobachtet das System, was es fühlt? In der Liebeslyrik können wir die Rhythmik dieses Vorgangs, das Schwingen von einem Zustand in den anderen, erleben. Welch ein Glück! Allein im Gefühl, stünde die Zeit still. Selbst wenn die Therapie nicht anschlägt, genießen die Empfänglichen für einen kurzen Augenblick die höhere Umlaufbahn oder gar den Blick in die andere Welt.


So wie die woher auch immer kopierten Liebesgefühle das Handeln der Liebenden mitbestimmen, dürften kopierte Gefühle unser politisches Denken, unser Verhalten im Fußballstadion, unseren Musik- und Kunstgeschmack und vieles mehr entscheidend beeinflussen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Bis wir Gefühle hinterfragen, die unser Weltbild bestimmen, muss die kognitive Verzerrung leider erst ein schmerzhaftes Ausmaß erreicht haben.


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