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Fördert Alkohol Kohärenz

  • rbr0303
  • 11. März
  • 4 Min. Lesezeit

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Fördert Alkohol Köherenz?


War es während einer Führung im Loire-Schloss Chenonceau oder während einer im Schloss Favorite in Rastatt? Mit meinem Gedächtnis ist es leider nicht zum besten bestellt. Die freundliche Dame oder die freundlichen Damen - wahrscheinlich habe ich die Erläuterungen über die Trinkgewohnheiten der Vergangenheit mehr als einmal gehört - erklärten, das Wasser sei früher so schlecht gewesen, dass man selbst Kindern verdünnten Wein zu trinken gab. Alkohol hatte schon im ausgehenden Mittelalter, der frühen Neuzeit und womöglich bereits zuvor Leben gerettet.


Auf der anderen Seite wissen wir alle, wie schnell die stimmungsaufhellende, die Zunge lösende und Geselligkeit fördernde Wirkung dieses einfachen Moleküls bei manchen Zeitgenossen, das betrifft natürlich nur die anderen, die dunkleren Charaktereigenschaften zum Vorschein zu bringen vermag. Manch lustiger Abend endet im Desaster, in Schlägereien, man wacht erschrocken neben jemandem auf, den man bestenfalls nicht kennt oder stirbt tagelang tausend Tode und gelobt, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken. Aber solche Exzesse sollen hier nicht unser Thema sein. Wir wollen uns auch nicht mit den traurigen Auswirkungen einer Alkoholabhängigkeit auf die Betroffenen und den noch traurigeren Konsequenzen für deren Nächste auseinandersetzen, deren Leid noch mehr schmerzt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass manche Religionen den Genuss des Alkohol gleich ganz verbieten und andere gesellschaftliche Gruppen die Prohibition fordern.


Byung-Chul Han schreibt in seinem Werk die Burn-out Society über einen Übergang der Disziplinargesellschaft, wie sie Foucault entwirft, zu einer Gesellschaft der Selbstausbeutung, in der die Negation fehlt, allein das Positive zählt, wir uns dem Selbstoptimierungswahn und verinnerlichten Leistungsmaßstäben freiwillig unterwerfen. Ob ich die Grundgedanken richtig verstanden habe, sei dahingestellt. Ich empfehle die Quelle eher als Leseempfehlung. Immerhin gelingt es im verinnerlichten Projekt, die Fliehkräfte der unendlichen Möglichkeiten, Gedanken und Ideen zu bändigen, zu fokussieren und die Energie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Anstatt die durch zehn- bis zwölfstündige selbstbestimmte Tätigkeit geschundene Seele in Meditation oder Sport für den kommenden Tag in Form zu bringen, suchen wir häufig die Abkürzung und greifen nach einem Glas Wein, Bier oder einem Gläschen, gefüllt mit einer edlen Spirituose. Das entspannt sofort, leider nur kurz, deshalb schenken wir nach. In Gesellschaft macht das Spiel noch mehr Spaß. Aber wenn schon Hollywood Stars nicht mehr in der Öffentlichkeit rauchen und saufen, stattdessen in Lifestyle- oder Sportmagazinen veganes Essen und Fitnessroutinen vorstellen und sich nur noch einige  Rockstars opfern, fehlen zunehmend Vorbilder für diesen Lebensstil und einfachen Ausstieg.


Welche Kultur verlieren wir, auf welche Werke der Weltliteratur, auf welche Kunstwerke werden wir in Zukunft verzichten müssen, wenn wir der Droge Alkohol abschwören? Wir würden es nie erfahren. Hätte Joseph Roth den Radetzkymarsch schreiben können, wenn er auf Alkohol verzichtet hätte? Besser hätte der Roman jedenfalls nicht werden können. Wie sähe die europäische Kulturlandschaft aus ohne die vielen Weinreben und Obstbäume? Kühlschränke gibt es erst seit kurzem, gemessen an der Menschheitsgeschichte. Die Konservierung des Obstes mittels alkoholischer Gärung war noch in der frühen Neuzeit eine der wenigen Möglichkeiten, im großen Maßstab Früchte im Winter konsumieren zu können - mit Nebenwirkungen versteht sich. Aber die nahm man gerne in Kauf.


Ich kann mich noch an Politiker erinnern, die besoffen vor die Kamera traten und Statements abgaben, die im Rückblick weniger bescheuert klangen als manch vorformulierte Büttenrede eines heutigen Würdenträgers oder einer aktuellen Würdenträgerin. Damals wäre Politikern und Medien die Forderung nicht in den Sinn gekommen, Alkoholkonsum zu sanktionieren, indem die Höhe der Krankenkassenbeiträge vom täglichen Blutalkoholspiegel abhängen. Der Schutz der Allgemeinheit vor den schädlichen Auswirkungen des Alkohols auf die Gesellschaft begann in meiner Zeitrechnung mit dem Gewahrwerden der Promillegrenze beim Autofahren. Später lernte ich, dass auch beim Radfahren eine Promillegrenze galt und man selbst als Fußgänger Sanktionen zu erwarten hatte, wenn man trunken durch die Straßen taumelte. Diese Gesetze schützen mich viel mehr, als sie mich belasten. Sie schaffen Ordnung. Das dürfte zumindest die große Mehrheit der Gesellschaft so empfinden.


Und Alkohol ist nicht die einzige Droge, die den Blick verschleiert, das Denken erschwert und alle anderen kognitiven Fähigkeiten welken lässt. Sicherungen brennen durch, erlauben an guten Tagen, dass kreative Schübe neue Gedankengebäude entstehen lassen, während das kleine Molekül an schlechten Tagen Tragödien auslöst, weil es den präfrontalen Kortex seiner Kontrollfunktionen beraubt. Der eine wird lustig, enthemmt, andere quälen ihre Mitmenschen, indem sie den dunklen Charaktereigenschaften freien Lauf lassen, leben angestaute Wut aus, werden gewalttätig. Die Dosis macht das Gift, hieß es in der Medizin, als ich klein war.


Heute lesen wir, dass Alkohol als Zellgift auch in kleinsten Mengen schadet. Die Reihe der damit in Verbindung gebrachten Krankheiten scheint endlos, endlos, weil ich solche Artikel nicht weiterlesen mag und lieber verdränge, wie alles Unangenehme, das den Spaß am Leben zu rauben verspricht. Alles, was wir über die unheilvollen Folgen des Alkoholkonsums wissen, wissen wir von den Massenmedien, formuliere ich frech nach Luhmann, obwohl ich es oft genug im täglichen Leben beobachten und manchmal sogar am eigenen Leib spüren durfte. Was die Kenntnis der biochemischen Folgen des Alkohols anbelangt, greife ich ausschließlich auf Zeitschriften, Bücher und Bewegtbildproduktionen zurück. Notgedrungen!


Und alles, was wir über die unheilvollen Konsequenzen des Alkohols formulieren, lässt sich auch über andere Gifte sagen. Im übertragenen Sinne können auch Ideen unsere Zellen vergiften, grausame Blüten entfalten, Pollen und Samen ausbilden und in die Umwelt hinauskatapultieren. Wer keine Beispiele in seinem näheren Umkreis findet, sich nicht in die Menschheitsgeschichte vertiefen oder nicht das Tagesgeschehen verfolgen will, dem sei Dostojewski empfohlen. Solange ich nicht alkoholabhängig bin, kann ich auf den Genuss von Wein und Schnaps verzichten, wenn ich mir die Folgen des Alkoholkonsums auf meine Gesundheit und die meiner Mitmenschen vor Augen führe. Welche Möglichkeiten stehen mir offen, die Wirkungen meiner Ideen auf meine Gesundheit und die Gesundheit meiner Mitmenschen, zu kontrollieren? Da ich keine Gedankengebäude errichte und mir jegliches Sendungsbewusstsein abgeht, schätze ich meine Gedanken für die Gesellschaft als ungefährlich ein. Und jene, die auf dem Weg zum Übermenschen oder schon in seinen Schuhen wandeln, stellen sich mit oder ohne Alkohol eh nicht in Frage. Die schlagen sich nicht damit herum, dass ihre Neuronennetze nicht kohärent funken. Charismatische Persönlichkeiten erzeugen gesellschaftlichen Gleichklang, wirken faszinierend und versammeln Jünger, manchmal Heerscharen um sich. Aber das erreicht auch ein Weinfest in der Pfalz.


Dieser Essay entsteht ohne Alkohol im Blut. Und doch gestehe ich: manchmal steigen mir beim Genuss eines guten Weines, kühlen Bieres, Whiskeys oder Schnapses fast Tränen der Rührung und des Entzückens in die Augen. In diesen Momenten bin ich ganz bei mir. Noch viel schöner sind solche Augenblicke, wenn ich sie mit Gleichgesinnten teile.

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