Dr. Jekyll und Mr. Hide im 21. Jahrhundert
- rbr0303
- 30. Dez. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 31. Dez. 2024

Gestern hatte ich eine gute Idee für einen Essay. Die hätte ich vielleicht notieren sollen, denn heute sind die Gedanken weg. Ich hatte Byung-Chul Hans Buch „Transparenzgesellschaft“ in die Hand genommen, das ich schon zweimal gelesen habe. Irgendwie ging es darum, dass ich beim Lesen gute Anregungen, aber auch zahlreiche Vereinfachungen gefunden habe, die zu vereinfachten Schlussfolgerungen führen, Schlussfolgerungen, die sich mit meiner Erfahrung zu sehr reiben. Einige Philosophinnen und Philosophen besprechen das Werk „Müdigkeitsgesellschaft“ auf YouTube in wertschätzender Weise. Ich war der Meinung, dass ich es vor viele Jahren erworben hätte, finde es aber in meiner unstrukturierten Bibliothek nicht. Ich wollte es lesen, was beweist, wie ich mich von sozialen Medien beeinflussen lasse, wobei ich zu meiner Ehrenrettung Hans Werke beim Stöbern in einer Buchhandlung entdeckte. Jetzt frage ich mich, wo liegt der Unterschied?
Wo liegt der Unterschied zwischen einem durch einen Algorithmus oder durch eine KI generierte Empfehlung auf YouTube und der Auslage einer Buchhandlung? Klar, ich greife in der Buchhandlung nach dem Buch, lese und kaufe, wenn es mich anspricht. Im Falle einer Buchbesprechung auf YouTube oder der Empfehlung eines anderen sozialen Mediums - das gibt es in meinem Fall nicht - gehe ich gezielt in die Buchhandlung oder bestelle das Buch im Internet. Im einen wie im anderen Fall habe ich das vielleicht trügerische Gefühl, selbst entschieden zu haben. Indem ich mir die Beeinflussung bewusst mache, schwindet das Gefühl, frei entschieden zu haben, nicht. Ich gehe davon aus, dass es in der Psychologie oder der Neuropsychologie bereits wissenschaftliche Studien gibt, die der Fragestellung nachgehen und zu Ergebnissen gekommen sind. Und die Philosophie untersucht Willensfreiheit schon seit Tausenden von Jahren. Das Gefühl bleibt mir allein. Ist das nicht romantisch?
Damit sind wir beim Punkt. In welchem Kontext bewege ich mich? Kreise ich im eigenen Orbit oder will ich jemanden mitnehmen auf meinen Flug durch die Welt der Gedanken. Was wir uns bei unseren Überlegungen immer mal wieder vergegenwärtigen sollten, ist die Frage, inwieweit das eigene Denken soziales Konstrukt ist. Der ein oder andere macht es sich einfach und findet monokausale Antworten in seiner Blase. Hilft es Ideen und Gedanken aus unterschiedlichen Quellen herumzuwälzen, zu kauen, auszuspucken, unsicher und skeptisch zu bleiben?
Wir werden zukünftig immer mehr KI-generierten Texten ausgesetzt sein, als Ergebnis, dass immer mehr Wissen und immer Texte im Netz für alle verfügbar sein werden und sein sollen. Einige fordern gar, das Urheberrecht abzuschaffen. Mit dem KI-generierten Text kommt eine intransparente Komponente über die Hintertür ins Haus der Gedanken, der öffentlichen Meinung, der Wissenschaft. Ich stelle mir vor, wie wir zukünftig die Debatten von Bots verfolgen werden, ohne dass wir es merken. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Indoktrination, der wir höchstwahrscheinlich bereits heute erliegen.
Wie organisiere ich als Mächtiger, dass sich die Reihen hinter mir schließen? Wer die öffentliche Meinung kontrolliert, kontrolliert die Gesellschaft. Brot, Spiele und die Peitsche hießen früher die Antworten. Es schaut so aus, als würde in der westlichen Welt die Peitsche seltener geschwungen. Autoritäre Organisationen oder Staaten verzichten heute noch nicht darauf. Wir wollen nicht verschweigen, dass auch in der westlichen Hemisphäre autoritäre Organisationen mit Züchtigung operieren. Die Methoden der Überwachung sind einfacher, effizienter geworden, wobei sich die Gegenseite auf die subtilere Form der Überwachung einstellt und gegensteuert.
Personen, die in sozialen Medien noch freigiebiger mit persönlichen Daten, Vorlieben, Fotos umgehen als ich, achten viel heutzutage mehr auf das Bild, das sie abgeben als ich, bis zu einem Grad, dass der Mensch dahinter kaum mehr zur Geltung kommt. Da entstehen eher Abziehbilder sozial konstruierter Vorbilder, ob absichtlich oder unabsichtlich mag ich nicht entscheiden. Je mehr die Leiden der Opfer sozialer Medien ins öffentliche Bewusstsein rücken, desto mehr schreitet dieser Prozess voran. Man kann nur hoffen, vielleicht darf man hoffen, dass die sozialen Medien zu einem digitalen Maskenball mutieren. Inwieweit kann man natürlichen Lernprozessen trauen?
Wie können wir verhindern, dass wir uns im Netz der sozialen Medien und der digitalen Überwachung verfangen? Nun, es gab eine Zeit vor der digitalen Revolution. Ich erinnere an das Werk Balzacs, in dem er ausführlich das Zeitungs- und Verlagswesen seiner Zeit beschrieben hat. Oder folgen wir dem Beispiel Byung-Chul Hans und destillieren aus den Schriften von Philosophen und Soziologen eine eigene Haltung zum Umgang mit den neuen Medien und den Herausforderungen der digitalen Welt. Wenn ich eine seriöse Zeitung aufschlage und Nachrichten lese, erwarte ich, dass die Wahrheit berichtet wird. Lese ich darin einen Kommentar, weiß ich, dass eine Meinung vermittelt wird. Schaue ich Werbung an, weiß ich, dass ich keinen objektiven Testbericht sehe. Ich hege den Verdacht, dass ich angelogen werde. Eine eigene Haltung zu den sozialen Medien kann sich bei mir nur eingeschränkt bilden, da ich sie kaum nutze.
Auf Marktplattformen im Internet bin ich durchaus aktiver, sei es, weil ich einige Bücher nur noch dort finde, sei es, weil Märkte im Netz transparenter sind oder einen transparenteren Endruck erwecken, der Preisvergleich leichter fällt. Völlig schamlos agiere ich als Käufer. Der Verkäufer hütet seine Geheimnisse tief vergraben in Datenwolken oder fest verschlossen in Tresoren, denn nur die Intransparenz schafft schamlosen Reichtum jenseits von Gut und Böse. Selbst der Erfolg im Hochfrequenzhandel gründet auf Informationsvorsprüngen, sei es auch nur im Millisekundenbereich. Marktkräfte streben zu Oligipolstrukturen, in letzter Konsequenz zu Monopolen. Soll mann die Kartellbehörden abschaffen, weil sie das Ziel des fairen Wettbewerbs und der Transparenz verfolgen?
Völlig neue Berufsfelder und Berufe entstanden im Siegeszug der sozialen Medien. Und hier schließt sich der Kreis. Wer in der schönen neuen Medienwelt arbeitet, ist zweifellos besonders gefährdet, der Selbstausbeutung anheim zu fallen. Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. Wir profitieren von diesen Opfern. Mag sein, dass wir den richtigen Trank noch nicht gefunden haben, die digitalen Monster zu beherrschen.


