„Die Welt ist nichts als Geschwätz“
- rbr0303
- 6. Mai
- 5 Min. Lesezeit

„Die Welt ist nichts als Geschwätz“ *)
Ach, wenn ich meine schönen Gedanken nur ausdrücken könnte! Was geistert nicht alles in meinem Kopf herum, welche Schätze schlummern in meinem Inneren, ohne dass sie jemals gehoben werden! Weil mir die Worte fehlen, bleiben sie meinen Mitmenschen für immer verborgen. Vielleicht könnte mir geholfen werden, vielleicht verstünde mich jemand, erlöste mich aus meiner Vereinsamung, entwirrte die Verstrickungen, die mein Verstehen und Fühlen fesseln.
Vögel zwitschern und tirilieren. Die Papageienart der Wellensittiche scheint begabter zu sein als andere Singvögel wie Nachtigallen, die immer die gleichen Melodien wiederholen, sodass wir sie abends bewundern können, die aber damit nur über ein begrenztes Vokabular des Sagbaren verfügen, von Gänsen und Enten haben ich noch keine komplexe Tonfolge gehört. Hunde bellen, Katzen schnurren und kreischen, Löwen brüllen, Wale singen. Unsere nächsten Verwandten haben ihre eigene Sprache, sie gestikulieren, tragen ihr Seelenleben auf Gesicht und Körper zur Schau wie wir auch. Da ist es nur natürlich, dass Bilder wirkmächtiger sind als das Wort, das gesprochene Wort mächtiger als das geschriebene. Und doch zählt das geschriebene Wort im Zweifel am meisten.
Wer lebhafte und deutliche Vorstellungen im Geiste hat, wird diese auch auszudrücken wissen, es kommt nicht auf die Redekunst noch auf die Fähigkeit an, in beeindruckender Weise schriftlich halluzinieren zu können, wie ich Montaigne verstanden habe. Der teuerste Fußballschuh nützt auf dem Platz nichts, wenn man nicht kicken kann. Um klare Gedanken - in welcher Sprache auch immer - zu formulieren, bedarf es keines besonders ausgeprägten Talents, da reichen mitunter Grimassen.
Wem es von Natur aus vergönnt ist, große Kunstwerke zu Papier zu bringen oder überzeugend zu reden oder dies auch nur unter schweißtreibender Anstrengung gelernt und geübt hat, mag die besondere Verantwortung spüren, die damit verbunden ist. Inzwischen verführen uns schon Künstliche Intelligenzen, ohne dass wir es merken.
Das geschrieben Wort zählt im Zweifel am meisten. Wir vergessen zunehmend, dass selbst im Online Handel kein wirtschaftlicher Austausch ohne geschriebenes Wort besiegelt wird und erst auf dieser Basis zustande kommt. Im Zweifel sollte man lesen können. Bald wird unser persönlicher KI Agent unsere Rechtsgeschäfte mit anderen persönlichen KI Agenten und KI Agenten von Unternehmen übernehmen. Im Sessel oder im Bett verfaulend, werden wir vor uns hin brummeln, Stunden später wird ein Bote etwas liefern, hoffentlich haben wir klar genug gesprochen, Jahre später wird ein Android an der Tür klingeln. Auch dann wird jedem Handel ein niedergeschriebener Vertrag zugrunde legen, den man für die Gerichte ausdrucken wird, in einer Sprache, die das brummelnde Wesen nicht wird lesen können und es wird sich fühlen, wie der Protagonist in einer Erzählung Kafkas, wenn bei der Bestellung oder beim Kommentieren eines Social Media Beitrags etwas schief gelaufen ist.
Ich unterscheide Geschwätz vom Meeresrauschen inzwischen, indem ich mich ans Meer setze, schaue und lausche. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viel Lebenszeit ich hätte sinnvoller nutzen können, indem ich geschaut und gelauscht hätte, anstatt Bilder, Texte, Unterhaltungen ohne aktives Mit- oder Nachdenken zu konsumieren. Was ich mit der gewonnenen Zeit angefangen hätte, bleibt eine andere Frage. Es gibt kein passives Konsumieren. Was wir sehen, hören und lesen, hinterlässt Spuren in unserer Seele, ob wir das glauben oder auch nicht.
Die Welt ist nichts als Geschwätz, weshalb es nicht unterschätzt werden darf. Wenn wir schon über Sprache nachdenken, was gibt es beim Schwätzen Schöneres, als über andere zu lästern, ganz besonders, wenn sie es verdient haben und wer beteiligt sich nicht gerne daran, je nach Bildung und moralischem Kompass finden sich mehr oder weniger gelungene Umschreibungen des beliebten, gesellschaftlichen Spiels, manchmal fühlen wir uns als Opfer, wenn andere hinter unserem Rücken unlauter über uns reden, das ein ums andere Mal schreiten wir selbst zur Tat, immer in bester Absicht, das versteht sich von selbst, subtil oder derb, wie es die Situation zulässt, geschickt oder ungeschickt, der oder die andere soll möglichst nichts davon merken, wie wir ihn oder sie in der halb öffentlichen Meinung, im eher kleinen gesellschaftlichen Orbit, ins rechte Licht rücken. Die Nähe des Lästerns zum Mobbing wollen wir hier nicht verschweigen. Wer Interesse am Thema hat, dem sei das Studium psychologischer Studien empfohlen, wenn sie denn bereits in ausreichendem Maße erstellt und veröffentlicht sind.
Was interessiert mich das Geschwätz von gestern? Hätte ich den Satz vor 20 Jahren formuliert, hätte er sicher keine breite Wirkung entfaltet. Mehr denn je kommt es nicht darauf an, was gesagt oder geschrieben wird, sondern wer etwas sagt oder schreibt und neuerdings, wie oft das Gesagte oder Geschriebene beobachtet wird, oft nur noch gemessen an der Zahl der Rezeptionen. Damit das Gesagte oder Geschriebene ein signifikantes Gewicht bekommt, muss es aus dem Munde oder der Feder einer gewichtigen Persönlichkeit stammen, ob in einem Unternehmen, einer Institution oder in der öffentlichen Meinung, sonst ist es nichts wert. Es wird überhört, nicht gelesen, nicht wahrgenommen, bleibt nicht haften in gesellschaftlichen Institutionen und mag es noch so wichtig sein. Das Gewicht der Persönlichkeit wiegt allerdings schwer, wenn sie ihre Meinung geändert hat, zu einer neuen Einsicht kommt und nach vielleicht langem Ringen in der öffentlichen Wahrnehmung eine diametral entgegengesetzte Meinung vertreten will. Nur Lichtgestalten wird so ein Verhalten leicht verziehen.
Ob wir uns das vorstellen können oder nicht, die menschliche Sprache, wie wir sie heute kennen, gibt es noch nicht lange. Unsere Vorfahren vor vier Millionen Jahren kannten sie nicht. Die Welt ist zwar nichts als Geschwätz, aber sie war vor uns da und wir tun alles dafür, dass die Menschheit das Ende der Welt nicht erleben wird, dass die Welt also auch nach uns noch da ist (davon gehe zumindest ich aus). Die Sprachen werden mit uns verschwinden, möge uns eine KI überdauern, mögen uns Bücher überdauern, sie werden wertlos sein, wenn niemand mehr da ist, der sie liest, die KI wird sie nicht brauchen, für mich eine schmerzliche Einsicht. Ist es vor diesem Gedanken nicht töricht zu denken, die 7.000 natürlichen Sprachen, die Sprachen der Wissenschaften, der Wirtschaft, des Rechts, die Bilder, die Bewegtbildsequenzen, die wir produzieren, könnten mehr sein als ein Hilfsmittel, als ein Medium zur Kommunikation, zur Regelung unseres Zusammenlebens, zur Beschreibung unseres Innenlebens, um es zu verstehen, um es der anderen oder dem anderen offenbaren zu können - mit all den Fehleinschätzungen und Missverständnissen, die der Gebrauch der jeweiligen Sprache mit sich bringt, einschließlich der Sprachen der positiven Wissenschaften?
Im Geschwätz setzen wir uns über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg, denken uns die Vergangenheit, entwickeln versponnene Iden für unsere Zukunft, denen wir Gestalt geben, drücken unserer Innenleben, unsere Gefühle in Worten und Bildern aus, sodass wir sie - und sei es nur ein Bruchteil davon - mit unseren Mitmenschen teilen oder uns wenigstens an der Illusion erfreuen können, dass wir im Schmerz, in unserem Leid, unserer Freude nicht allein sind. Ist es nicht schön, ein Buch aufzuschlagen und darin zu lesen, zu denken, zu empfinden, mir spricht jemand aus der Seele, etwas zu erfahren, von dem ich nichts wusste, von dem ich nicht wusste, dass es für mich wichtig werden würde?
Ach, wenn ich meine Gedanken nur ausdrücken könnte!
*) aus Montaigne: „Über die Kindererziehung“; mir scheint Montaigne war beim Thema Bildung seiner Zeit voraus


