Der Teufel in und unter uns
- rbr0303
- 30. Nov.
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Der Teufel in und unter uns
Schon Heraklit stellte fest, dass wir nicht zweimal in denselben Fluss steigen können. Blicke ich 40 oder gar 50 Jahre zurück, sehe ich Fische bäuchlings nach oben an der Wasseroberfläche des Rheins schwimmen. Im vergangenen Sommer hielt ich beim Kajak fahren die Hand ins Rheinwasser, um mich abzukühlen. Ich zog sie unversehrt wieder heraus.
Indem wir die Gefahren der Natur aus unserem Leben verbannen, verändert sich unser natürliches Lebensumfeld grundlegend, verändert sich die Erde inzwischen an Orten, die der Mensch noch nie betreten, nicht einmal gesehen hat; viele beschreiben die Veränderungen als Zerstörung. Letzten Endes machen wir uns nur um uns selbst Sorgen. Die wenigsten von uns - mich eingeschlossen - könnten sich in der Natur ohne moderne technische Hilfsmittel behaupten. Wie groß müsste das Wiesen- und Waldstück sein, damit ich dort mit einer Familie überleben könnte und wie viele Menschen hätten unter dieser Prämisse auf der Erde Platz? Die Natur brauchen wir nicht zu retten. Die Natur ist unerbittlich, wir sind Teil von ihr. Es stellt sich nur die Frage, ob unsere Nachfahren das Verglühen der Erde erleben werden oder ob uns die Natur nicht zuvor eliminieren wird. Vielleicht sind am Ende nur noch die menschlichen Bestien übrig, die sich gegenseitig die Kehle aufschlitzen und fressen. Diese letzten übrig Gebliebenen werden sich völlig verblödet in rudimentärer Sprache fragen, was los ist, wenn ihr Blut anfängt zu kochen.
Wie die wissenschaftliche Erkenntnis gereichen Vernunft, Verstand, logische gezogene Schlussfolgerungen, entwickelte Modelle und daraus abgeleitete Handlungen nur zur Lösung spezifischer Probleme oder von Problemen der eigenen Klientel und verursachen dabei oft ungewollt andere. Wir sehen nicht, was hinter uns vorgeht. Nehmen wir einen Spiegel in die Hand und schauen damit nach hinten, bleibt uns verborgen, was sich vor uns zusammenbraut. Kommunikation mit anderen erweitert unser Verständnis von der Welt und unsere Chancen darin zu überleben dramatisch. Die Weltformel hat noch niemand gefunden und wird auch nie jemand finden, weil jede Erkenntnis auf phänomenalen Beobachtungen gründet. Es hilft dem einzelnen und Gruppen ab und an, eine erhabene Position einzunehmen, Abstand vom Alltag zu gewinnen. Dann kann man Entwicklungen und Fehlentwicklungen beobachten, einordnen und gegensteuern. Oft fallen wir dabei in Extreme, die andere Unbilden nach sich ziehen, wenn der aristotelische Weg vielleicht die bessere Option gewesen wäre. Um das Abgrundtief Böse zu sehen, braucht man nicht auf den Mount Everest zu steigen.
Ich flaniere gerne durch die Sindelfinger Altstadt. Viele aufwendig restaurierte Fachwerkhäuser aus dem Mittelalter zieren den alten Ortskern. Mehrere Tafeln wie z.B. am alten Rathaus oder an der nördlichen Stadtmauer erinnern an die Frauen, die zwischen 1563 und 1616 als Hexen verfolgt, in zivilrechtlichen Prozessen verurteilt und hingerichtet, meist grausam verbrannt wurden. Die 70-jährige Witwe Barbara Ada musste 1611 einen Hexenprozess über sich ergehen lassen. Der Pfarrer spekulierte in einer Predigt, dass Hexerei eine mögliche Ursache des vorangegangenen Hagelsturms hätte sein können. Während dieses Gottesdienstes schrie Barbara Ada auf. Das reichte als Rechtfertigung für den angestrengten Prozess. Sie wurde freigesprochen, weil die Bevölkerung auf ihrer Seite stand. Im Jahre 1615 wurde Barbara Ada erneut der Hexerei bezichtigt und verhaftet. Auf dem Weg zum Verhör stürzte sie sich von der Stadtmauer, vermutlich in selbstmörderischer Absicht - Frauen und Männer wurden während der Verfahren qualvoll gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen und weitere verdächtige Namen preiszugeben. Barbara Ada überlebte den Sturz, wurde verurteilt und verbrannt. Ich stehe vor den historischen Stätten und mich schaudert noch nach über 400 Jahren, wenn ich die Tafeln lese. Nach historischen Quellen war Walburga Pfau am 01.10.1616 die letzte Frau, die im Zuge der Hexenverfolgungen in Sindelfingen hingerichtet wurde. In Deutschland endete das leidige Treiben erst Ende des 18. Jahrhunderts (letzte Verurteilung zum Tode 1775; siehe unten).
Zwei Jahre später im Jahre 1618 begann mit dem Prager Fenstersturz der 30-jährige Krieg, dessen Wüten in Deutschland Grimmelshausen in seinem epochalen Roman „Der Abenteuerliche Simplicissimus“ aus der Perspektive der Betroffenen und Getroffenen nachzeichnet. Der in der Ich-Form geschriebene Roman nährte in mir die Vermutung, dass sich die meisten Menschen seinerzeit im sozialen Denken, Fühlen und Handeln nicht allzu sehr von uns heute unterschieden. Unmenschlichkeit bricht sich immer wieder Bahn. Mitte des letzten Jahrhunderts töteten Deutsche im Namen des deutschen Volkes im industriellen Maßstab mehr als 6 Millionen Juden, bis zu 500.000 Sinti und Roma, Behinderte, Andersdenkende, Widerstand Leistende und viele andere mehr. Die Ausgabe 5/2025 der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft - Gehirn und Geist Dossier - gibt einen guten Einblick in die Psychologie des Bösen. Inzwischen sind zahlreiche Studien und Bücher wie z.B. „Die Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt dazu erschienen.
Im Jahre 1808, also 13 Jahre nach der Verurteilung von Anna Maria Schwegelin als Hexe zum Tode durch das Schwert - sie hatte sich selbst als vom Teufel besessen bezeichnet, erschien Faust I. Lange ging man davon aus, dass das Todesurteil an Anna Maria Schwegelin vollstreckt wurde. Sie starb aber im Gefängnis eines „natürlichen“ Todes 1781, sechs Jahre nach der Verurteilung. Der Fürstabt hatte das Todesurteil ausgesetzt und weitere Nachforschungen in dem Fall angeordnet, die wohl nicht weiterverfolgt wurden (Quelle: Wikipedia).
Der Glaube an Hexerei hat auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland eine Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht (Quelle: Wikipedia). Ich las in Geo gerade einen Artikel aus dem Jahr 2022, nachdem zum Zeitpunkt der zugrunde liegenden Studie in Deutschland 13% der Bevölkerung an Hexerei glaubten. In anderen Teilen der Welt war der Anteil teilweise noch viel höher. In einigen Regionen der Welt fallen auch heute noch - vornehmlich Frauen - Hexenverfolgungen zum Opfer. Ende des 18. Jahrhunderts nahm die Aufklärung Fahrt in Europa auf. Vielleicht hat das zum Ende der gräßlichen Verfahren und der bestialischen Praktiken in Europa beigetragen. Vielleicht setzte sich hier die Menschlichkeit durch; das Böse verlagerte sich in andere Lebensbereiche.
Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, deren Anwendung in der Technik und damit die Verdrängung der Natur aus unserem täglichen Lebensumfeld erklärten viele Phänomene, die unsere Vorfahren in dem Bereich magischer Mächte und Hexerei verorteten. Doch alles, was wir inzwischen gelernt haben, wirft neue Rätsel auf, auf die die einen mit Magie, andere mit dem Streben nach Erkenntnisgewinn oder beidem reagieren. Neben der Naturwissenschaft beschäftigte sich Newton auch mit alchemistischen Experimenten. Der naturwissenschaftlich interessierte Dichterfürst Goethe stellte den Teufel auf die Theaterbühne, holte ihn auf die Erde und machte Fausts Streben nach Erkenntnisgewinn und sinnlichen Genüssen mit den damit einhergehenden Schattenseiten und Konflikten - zumindest in meiner Vorstellung - unsterblich.
Ich glaube nicht an den Teufel, Hexen und dergleichen und beschäftige mich lieber mit der Einordnung der Erkenntnisse der Wissenschaft. Hexerei ist in Harry Potter Büchern, Märchen, Filmen, Fernsehen und bei den Streaming-Diensten bestens aufgehoben. Und doch gibt es magische Momente im Leben, die so schön sind, dass ich nicht weiter darüber nachdenken will, deren Zauber das Nachdenken darüber zerstören würde. Die Magie der Worte vermag Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die uns nicht bewusst sind, teilweise in uns schwären, die dunklen Triebe, die dunklen Seiten in uns und in unseren gesellschaftlichen Konstellationen auszuleuchten, sodass wir sie schauen können. Die Magie der Worte treiben im Guten wie im Schlechten Risse in Gefüge der Macht und bringen sie manchmal zum Bersten.
Es wird höchste Zeit, Faust I und Faust II mal wieder zu lesen. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Hoffentlich ist das Wasser des Rheins nicht eines Tages so warm wie meine Haut.


