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Dein freier Wille geschehe!

  • rbr0303
  • 16. Juni
  • 3 Min. Lesezeit
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Dein freier Wille geschehe!


„Ich weiß doch, was ich will und was ich nicht will!“ Wer jemals in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stand, kennt die Situation, dass Abläufe, Vorgesetzte, Gesetze oder Richtlinien sie, ihn oder es zwingen, Dinge zu tun, die aus der eigenen Sicht sinnlos, ineffizient oder nicht zielführend sind. Für eine Unternehmenslenkerin mag das ebenso gelten, nur dass kein Vorgesetzter ihr sagt, was sie zu tun oder zu lassen hat, die Autonomie und das Gefühl, während der Arbeit selbstwirksam zu werden, Spuren in der Welt zu hinterlassen, dürfte ungleich erhebender sein. Das kann verlässlich nur beurteilen, wer beide Seiten erlebt hat.


Es gibt Tätigkeiten, die ich ungern tue, andere will ich tun. Weshalb sollte ich mich damit auseinandersetzen, ob der Wille frei ist? Ich esse gerne Schokolade. Wenn die im Mund schmilzt, ihre Aromen entfaltet, die Geschmacksnerven anregt, das Feuerwerk im Gehirn zündet, zum Genuss explodiert, lange nachwirkt, zur immer wiederkehrenden Erinnerung wird, wundert mich nicht, dass ich beim Stadtbummel oder im Einkaufscenter vor dem Chocolatier stehe und zu mir sage: ich will. Dann erlebe ich Momente im Supermarkt, in denen ich zur Tafel Schokolade greife und diese in den Einkaufskorb lege. Zu Hause provoziert sie im Küchenregal oder in der Giftecke. Wenn erst die Verpackung zerstört ist, gibt es kein Halten mehr. Je älter man wird, desto heftiger rebelliert der Körper gegen die Völlerei - meist am nächsten Tag - und korrigiert, was man will. Außerdem hört und liest man von den schädlichen Wirkungen, den Zerstörungen, die zu viel Fett und Zucker im Körper anrichten und glaubt es.


Wenn wir uns nicht als freie Agenten begriffen, brauchten wir keine inneren Aufpasser, keine Normen, moralische Regeln oder Gesetze, die unser Verhalten regulieren. Wilde Tiere, für uns schädliche Pflanzen sperren wir in den Städten in Käfige, Gehege und Botanische Gärten, um sie zu kontrollieren. Wir sind gerade dabei, künstliche Agenten zu züchten oder sollen wir treffender formulieren: zu entwickeln. Wie sollen wir sie behandeln, wenn sie uns immer ähnlicher werden oder zumindest die Illusion davon in uns als Gewissheit erscheinen lassen?    


Ohne die Sprache gäbe es keinen freien Willen. Der freie Wille ist ein weißer Schimmel, ein viereckiges Quadrat, ein runder Kreis. Der Macher begreift sich als Urheber seines Tuns, sein Wille geschehe, die Umsetzung des Gewollten, sei es das Ergebnis eigenen Tuns oder im Zusammenwirken mit anderen oder durch andere geschaffen, belohnt das Gehirn mit der Ausschüttung körpereigener Drogen, Gefühle und deren Erinnerung bewegen uns, oft unwillkürlich, das schützt vor Strafe nicht. Muss ich mir die Frage stellen, ob der Wille frei ist oder sollte ich lieber die Beweggründe meines Handels erforschen?


Ohne Gesellschaft gäbe es keinen freien Willen. Ohne Gesellschaft gäbe es keine Sprache. Gäbe es das Wort in deutschen Sprache nicht, man müsste es erfinden. Wie dächte der letzte Mensch auf Erden über das Konzept des freien Willens? Gehen wir für das Gedankenexperiment davon aus, dass der letzte Mensch nicht immer allein gewesen wäre und eine menschliche Sprache erlernt hätte. Wäre ich der letzte Mensch auf Erden, hätte die Frage keinerlei Bedeutung für mich - für die meisten von uns, wage ich zu spekulieren. Vielleicht hängt es auch davon ab, welche Welt der letzte Mensch vorfindet, wenn wir uns vorstellen wollen, was er denkt. Ist die Umwelt intakt, hat man die Möglichkeit Nahrung und Schutz zu finden, sich fortzubewegen - das müsste dann wohl zu Fuß, auf einem Fahrrad, in einem funktionsfähigen Automobil oder auf einem motorisierten Zweirad geschehen, denn wie man Pferde nutzt, um von einem Ort an einen anderen zu kommen, wissen nur wenige. Immer mehr Menschen fühlen sich einsam, allein auf der Welt, ungewollt, nicht wie der Einsiedler, nicht wie Personen, die abgeschieden im Wald leben. Kann ich tun, was ich will, wenn ich allein bin?


Im deutschen Rechtssystem ist das Konzept des freien Willens fest verankert. Ich kann mich an die öffentlich gewordenen Diskussionen erinnern, in denen Neurowissenschaftler das Konzept des freien Willens auf Basis ihrer Forschungsergebnisse ablehnten. Das erregte neben Rechtswissenschaftlern auch Philosophen und Theologen, die sich schon seit Jahrhunderten mit der Frage auseinandersetzen, sie nahmen und nehmen am Diskurs teil. Die Debatte ist in den Medien noch lebendig, auch wenn sich Ermüdungserscheinungen zeigen. Die gesetzgebende Gewalt hat weder das Grundgesetz, das Strafgesetzbuch noch das Bürgerliche Gesetzbuch, noch andere Rechtsvorschriften aufgrund der Diskussionen umgeschrieben und auch der Strafvollzug hat sich in den letzten 30 Jahren nicht grundlegend gewandelt.


Menschen werden nie darauf verzichten, einzelne Personen für Schäden verantwortlich zu machen, nur der Erfolg hat viele Mütter und Väter. Die letzte menschliche Person, dem über rechtliche Konstrukte und Winkelzüge die Verantwortung für das Fehlverhalten einer künstlichen Intelligenz, eines humanoiden Pflegeroboters angelastet werden kann - das mag der letzte Nutzer sein, wird die rechtlichen, strafrechtlichen Konsequenzen zu tragen haben und ggf. die restlichen seiner Tage im Gefängnis verbringen. Auch die Begründung „Es sei Gottes Wille gewesen“, wirkte bisher vor keinem gesellschaftlichen Tribunal als entlastendes Motiv. „Dein Wille geschehe!“

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